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Sociology of Health and Social Welfare

 

 

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Aspekte suizidaler Handlungen in den westlichen Gesellschaften

Susann Furrer / Reto Widmer

(Zürich, August 1997)

 

Inhalt

Einleitung

Kurzüberblick

1. Begriffserklärungen

1.1. Suizid
1.2. Suizidrate
1.3. Vollendeter und versuchter Suizid
1.4. Suizid-Methoden

Historische Betrachtung des Suizids sowie sein religiöser und rechtlicher Hintergrund

Soziologische Aspekte des Suizids

2. Soziale Regungslosigkeit fördert Suizide

2.1. Phänomen „Massensuizid"
2.2. Frauensuizid als „kommunikative Handlungsform"

Tabu: Jugend-und Alters-Suizid

2.3. Kinder -und Jugend-Suizid

2.3.1. Mädchen/Jungen
2.3.2. Exkurs: Die Suizidwelle im Rheintal

2.4. Suizid im Alter

2.4.1. Rollenverlust im Alter
2.4.2. Das gesellschaftliche Leitbild: Der „ideale" Rentner
2.4.3. Frauen/Männer

Suizid in Institutionen (Institutionseffekte): Der Strafvollzug

2.5. Allgemeine Erkenntnisse
2.6. Prävention

2.6.1. Institution
2.6.2. Ebene der inhaftierten Person

2.7. Stichwort: Arbeitserziehung

Primäre, sekundäre und tertiäre Prävention

3. Primäre Prävention: Verhinderung bzw. die Reduzierung von Suiziden

4. Sekundäre Prävention (Früherkennung)

4.1. Früherkennung: Suizid-Signale (Präsuizidale Syndrome)
4.2. Die Aufgabe der Ärzte
4.3. Krisenintervention

5. Tertiäre Prävention: Komplikationsprophylaxe nach versuchtem Suizid

Fazit

Literatur


Einleitung

Die Absicht dieser Informationsschrift und der Themenwahl besteht darin, die grosse Flut an thematisch sehr spezifisch detaillierter Literaturauswahl zu fokussieren, um an diesem Thema interessierten Personenkreisen eine knappe Übersicht mit den wichtigsten Informationen und Aspekten faktengebündelt anzubieten.
Dabei handelt es sich nicht um eine empirische Studie, sondern um eine kritisch-systematische Ausarbeitung der wissenschaftlichen (vor allem deutschsprachigen) Suizidliteratur.
In der Gruppenarbeit "Suizid" haben wir viel Datenmaterial gesichtet und stellten auch dort häufig die Reduzierung der Problematik auf die Individualebene fest.
Wir halten es für ausgesprochen wichtig, den von einem Menschen geplanten oder spontanen Entschluss, auf das weiteres Leben zu verzichten, in einen gesellschaftlichen Strukturkontext einzubinden.

Das Thema Suizid lässt sich nicht eindimensional fassen: Zu vielfältig und facettenreich präsentiert sich die Materie. Ajdacic-Gross und Olivier Jeanneret (1) unterscheiden folgende Betrachtungsweisen des Suizids:

  • als suizidales Verhalten: neben Suizid ebenfalls Suizidversuch und Suizidfantasien;

  • als selbstschädigendes, autoaggressives Verhalten: z.B. Selbstverstümmelung, Suchtverhalten;

  • als gewaltsames, aggressives Verhalten: z.B. Sucht, Deliquenz; als Rückzugs-/Bewältigungsverhalten;

  • als pathologisches Verhalten.

Eine Zusammenfassung und Sichtung der vorhandenen Informationen drängt sich also auf, weil Suizidtodesfälle in den meisten industrialisierten Ländern nach der teilweisen Liquidation der Infektionskrankheiten an die zweite bis vierte Stelle der Todesursachenstatistiken für das 15. bis 44. Lebensjahr gerückt sind. "Fast jede zweite Minute stirbt ein Mensch durch Selbstmord".(2)

Inhalt


Kurzüberblick

1. Begriffserklärungen

1.1. Suizid

Der Begriff Suizid (Selbstmord oder Selbsttötung) setzt sich aus den beiden lateinischen Ausdrücken sui cadere (sich töten) oder sui cidium (Selbsttötung) zusammen. Dementsprechend nennt sich die Suizidforschung Suizidologie - eine anerkannte, interdisziplinär arbeitende Wissenschaft des medizinischen, psychologischen und sozialwissenschaftlichen Bereichs - und die Person, die einen Suizid begeht, Suizident.
Als erstes halten wir es für wichtig, die Verwendung von einigen in unserer Arbeit verwendenten Begriffe näher zu definieren.
Die Begriffe Suizid und Suizidversuch fassen wir unter dem Oberbegriff Suizidalität (Neigung, Selbst"mord" zu begehen) zusammen.
Der Suizid ist eine suizidale Handlung mit letalem (tödlichem) und der Suizidversuch eine mit nicht letalem Ende.
Wir verwenden bewusst nicht den Begriff Selbstmord, da das Wort Mord impliziert, dass sich der Suizident eines Verbrechens schuldig mache, so wie es bei einem Mord der Fall ist. Da es nicht mehr der heutigen Rechtsprechung nicht mehr üblich ist, einen Suizid zu ahnden, verzichten wir auch auf diesen Begriff.
Es gab jedoch Zeiten, in denen der Suizid als Verbrechen bestraft wurde, worauf wir noch im historischen Teil zurückkommen werden.
Selbsttötung
wählen wir auch nicht, da es nicht jedesmal das Motiv ist, sich wirklich zu töten, denn es gibt auch die suizidale Handlung als Appell oder als Erpressung.
Zur sprachlichen Vereinfachung werden wir vom Suizid und Suizidversuch sprechen, was nicht nur ausschliesslich die einzelne Handlung meint.

Der Soziologe Emile Durkheim hat als einer der Ersten den Suizid von wissenschaftlicher Seite aus angegangen und eine Definition geliefert: "Man nennt Selbstmord jeden Todesfall, der direkt oder indirekt auf eine Handlung oder Unterlassung zurückzuführen ist, die vom Opfer selbst begangen wurde, wobei es das Ergebnis seines Verhaltens im voraus kannte".
Wertvoll ist die Definition Durkheims deshalb, weil sie Handlungen mit Todesfolgen ausschliesst, die von Menschen begangen werden, von denen es heisst, sie seien nicht im Besitz ihrer geistigen Kräfte gewesen und hätten sich falsche Vorstellungen über die Folgen ihres Handelns gemacht. Die Definition erlaubt aber auch Handlungen als Suizide zu, die normalerweise nicht als solche eingestuft würden.
Durkheim erkennt im Suizid eine soziale Tatsache, die durch soziale Bedingungen erklärt werden muss.

Inhalt

1.2. Suizidrate

Die Suizidrate (Suizidmortalität) setzt die Anzahl der Suizide in Verhältnis zu 100'000 Einwohnern. Die Rate nimmt mit dem Alter zu und liegt bei Männern höher als bei Frauen. Analog dazu spricht man bei Suizidversuchen von der Suizidversuchsrate.

1.3. Vollendeter und versuchter Suizid

Bei der Auseinandersetzung mit Suizid ist die Unterscheidung zwischen vollendetem und versuchtem Suizid notwendig, denn nicht hinter jedem Suizid muss die Idee stehen, sich endgültig das Leben zu nehmen.

  • Wird ein Suizid als Appell an die Mitmenschen geplant und bewusst so ausgeführt, dass er scheitert, wird von einer parasuizidalen Geste gesprochen. Die Suizidmethoden sind weich: Tabletten-oder Drogeneinnahme, Ritzen an den Handgelenken.

  • Im Grenzbereich liegt die parasuizidale Pause, die einer Zäsur nach einem einschneidenden Erlebnis des Suizidenten gleichkommt. Der Wunsch, „einfach mal abzuschalten" ist die primäre Motivation zur Suizid-Ausführung.

  • Liegt die eindeutige Intention, zu sterben, vor, spricht man von einer parasuizidalen Handlung mit ausgesprochener Autoaggression. Meist wird eine entsprechend sichere Methode, eine sogenannte harte Methode, gewählt, also zum Beispiel Erschiessen, Erhängen usw.

Bei der Unterscheidung zwischen Suizid und Suizidversuch tritt immer wieder ein Problem in den Vordergrund: Wie kann die Ernsthaftigkeit eines Suizidversuchs beurteilt werden? Wie stark war die Absicht, zu sterben?

Drei Indikatoren lassen eine Unterteilung zu:

  1. Wie ausgeprägt war der Wunsch, zu sterben? (Suizidintention)

  2. Wie stark machte der Suizident ein rasches Auffinden seiner Person nach dem Suizidversuch möglich? (Suizidarrangement)

  3. Wie wahrscheinlich war der tödliche Ausgang? (Suizidmethode)

Zusätzlich wird die Unterscheidung Suizid und Suizidversuch erschwert durch die Tabuisierung des Suizids in der Gesellschaft, das Alter – ist zum Beispiel das nicht-Einnehmen von Medikamenten Suizid? – und die Gerichtsmedizin, die eine Todesursache beurteilen muss. Nicht selten werden Morde als Suizide zu kaschieren versucht: Wann ist ein Suizid aktiv begangen? Die Zahl der unklaren Todesursachen bei Todesursachen-Statistiken lassen Rückschlüsse auf die „wahre" Suizidrate zu. In der Regel kommt es bei einer Zunahme der unklaren Todesursachen zu einer Abnahme von Suiziden 

1.4. Suizid-Methoden

Verschiedene Methodiken des Vorgehens nach hypothetischer Todesursache des Suizids:
Erhängen, Erdrosseln, Erwürgen, Vergiftung, Feuerwaffen, Schnitt-, Stich-, und Hiebverletzungen, Ertrinken, Sprung aus der Höhe, elektrischer Strom, Selbstverbrennung, Strassenverkehr, Schienenverkehr, komplexer Suizid (zum Beispiel Tablettenkonsum und Tod durch elektrischen Stromschlag in der mit Wasser gefüllten Badewanne).

Inhalt


Historische Betrachtung des Suizids sowie sein religiöser und rechtlicher Hintergrund

"Nur in wenigen Fragen üben Religion und Philosophie einen so starken Einfluss auf die weltliche Gesetzgebung aus wie in Fragen des Suizids. Daher ist für das Verständnis der Entstehung und Gestaltung solcher juristischen Normen und ihre Anwendung Kenntnisse der religiösen und philosophischen Ansichten unentbehrlich." (Brunon, Hollyst: 1986).
Daher möchten wir kurz die geschichtlichen und religiösen Einstellungen gegenüber dem Suizid in verschiedenen Epochen und Kulturen darstellen:
Die Religionen der Naturvölker zeigen kein einheitliche Einstellung zum Suizid. Von manchen wurde er mit abergläubischer Furcht und von anderen gelassenen betrachtet ( z.B. germanische Stämme).
"Im Bewusstsein einiger Völker galt der Selbst"mord" als schweres Verbrechen; andere fassten den Suizid als Beleidigung der Götter auf".
Fernöstliche Religionen
, wie der Hinduismus und Buddhismus äusserten sich beispielsweise nicht eindeutig gegen den Suizid. Sie betrachten ihn eher als Dummheit, ein Mensch durch die Selbsttötung der Seelenwanderung nicht entgehen könne.
Im Islam ist die Einstellung zum Suizid negativ. " Zu sterben steht niemandem zu, es sei denn mit Allahs Erlaubnis- ein Beschluss mit vorbestimmter Frist".
Der Harakiri der Japaner ist eine positive Wertung des Suizids feststellbar. Diese „ehrenvolle" Suizid-Art musste nach einem genauen Zeremoniell durchgeführt werden. Sie hing mit dem japanischen Ehrgefühl zusammen; als Zeichen tief verwurzelter Loyalität seinem Herrn gegenüber, sowie als Protest gegen eine unwürdige Behandlung, die Möglichkeit eigenes Fehlverhalten auf ehrwürdige Weise zu bestrafen.
In Alexandrien existierten besondere Akademien zur Zeit Kleopatras, an denen Vorträge über die Selbsttötung und die dazu geeigneten Mittel gehalten wurde.
Hegesias (3.Jh. vor Chr.) war ein griechischer Gelehrter und betonte in seinen Vorträgen das Elend der menschlichen Existenz und das Recht eines Einzelnen, sich durch Selbsttötung davon zu befreien. Es folgten seinen Empfehlungen so viele junge Menschen, dass ihm Redeverbot erteilt wurde, da der König Ptolemäus Philadelphus eine drohende Entvölkerung befürchten musste.
"Pythagoras und seine Schüler (6.bis 4. Jahrhundert vor Chr.) sahen im Suizid eine Auflehnung gegen die Götter und wegen der von ihnen erwarteten Seelenwanderung eine Sinnlosigkeit." (P.R. Wellhöfer, 1981, S. 2).
Das Christentum, der Pfeiler westlicher Ethik, bezieht in seiner geschichtlichen Entwicklung keine konstante Einstellung zum Suizid.
Obwohl gewöhnlich die Bibel als Quelle des Suizidversuchs angesehen wird, ist das nicht richtig. Denn das alte Testament schildert fünf Fälle von Suizid: Samnson, Saul, Abimelech, Simri und Ahitophel. Deshalb mussten die Kommentatoren das fünfte Gebot "Du sollst nicht töten!" erweiternd interpretieren, um den Suizid als Sünde anzuprangern.
Dies liegt unter anderem daran, dass ausser im 5. Gebot aus der Heiligen Schrift keine wertende Stellungnahme zur Selbsttötung zu entnehmen ist.
Eindeutig verboten wurde der Suizid von der Religion des Moses.
Diese Gebot wurde von der katholischen Kirche übernommen, deren Einstellung wiederum den Mohammendanismus beeinflusst hat.
Im neuen Testament wird der Suizid nicht ausdrücklich verurteilt. Vielmehr zeichneten sich viele Christen durch eine krankhaften Obsession des Todes aus und widmeten dem Thema Sterben viel Zeit. In der Angst, eine Sünde zu begehen, brachten sich viele Christen um.
Der heilige Augustinus (354-430) verurteilte in seinem Werk "De Civitae Dei" den Suizid als ein abscheuliches und schändliches Übel. Den freiwilligen Tod gläubiger Christen verurteilte er als Mord und schwere Sünde, da die Keuschheit nicht an den Körper, sondern an die Seele gebunden sei.
Der heilige Thomas von Aquin stellte fest, dass niemand sich auf irgendeiner Weise selbst das Leben nehmen dürfe. Er bewies, dass Suizid ein absolut Böses, ein Akt gegen die Liebe zu sich selbst, gegen die Gesellschaft, schliesslich gegen Gott sei, wobei er drei Argumente aufführte, die die Verurteilung des Suizids begründen sollten:

  • „Der Suizid widerspricht den natürlichen Neigung des Menschen. Er verletzt das Gebot der Liebe zum Nächsten, die der Mensch auch sich selbst gegenüber empfinden soll.

  • Der Mensch gehört zur Gemeinschaft, ist Eigentum des Vaterlandes, hat also kein Recht, durch Suizid diese Anwesenheit zu tilgen.

  • Der Mensch ist Eigentum Gottes, gehört Gott, wie ein Sklave seinem Herrn gehört. Der Mensch ist nicht „sui iuris". Denn Gott entscheidet über unser Leben und unser Tod."

Dieses erste christliche Verbot schreiben einige Forscher der Synode in Arles 452 n. Chr. zu, und in der zweiten Synode in Orlean 533 wurde der Suizid als ein Verbrechen verurteilt, das schlimmer als jedes andere sei. Im Konzil von Toledo 693 zog der Suizid die Exkommunikation (Ausschluss aus der Gemeinschaft der katholischen Kirche) nach sich. So beschloss die Synode in Nimes 1248 Selbstmördern das Recht auf ein Begräbnis in geweihter Erde.
Das kanonische Recht verweigerte Selbstmördern in aller Regel eine christliche Beerdigung. Nur Menschen im Zustand geistiger Umnachtung, unter dem Einfluss psychischer Störungen, oder wenn der Verzweifelte noch Reue aufweisen konnte, wurden als Ausnahme behandelt.
Die Einstellung der Reformatoren unterschied sich zum Suizid zunächst nicht wesentlich vom Standpunkt der katholischen Kirche.
Martin Luther sieht in ihm "das Werk des Teufels" und verurteilte deshalb stets die Tat, aber nicht immer das Opfer.
In sämtlichen christlichen Konfessionen melden sich allerdings heute verstärkt tolerantere Stimmen, die sich vor allem gegen die Ächtung des altruistischen Suizids aussprechen; sie berufen sich unter anderem auf ein Wort im Johannes Evangelium (15,13), das bei der Diskussion völlig vernachlässigt wurde: "Niemand hat grössere Liebe denn die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde." Dieses Wort Jesu lässt die Ausweitung des fünften Gebots auf suizidale Handlungen im allgemeinen als nicht gerechtfertigt erscheinen.

Anhand dieser Ausführung ist zu erkennen, wie unterschiedlich suizidale Handlungen in verschiedenen Epochen und auch im Christentum beurteilt worden waren und heute noch werden.
So möchten wir kurz noch ein paar wichtige Philosophen und Dichter des späten Mittelalter und der Neuzeit mit ihrer Haltung dieser Thematik gegenüber zu Wort kommen lassen:

  • Die idealistische deutsche Philosophie hat den Suizid generell verurteilt. Einer von ihnen, Emanuel Kant (1734-1804), nahm in der "Grundlegung Metaphysik der Sitten" klaren Bezug: "Einer, der durch eine Reihe von Übeln, die bis zur Hoffnungslosigkeit angewachsen ist, einen Überdruss am Leben empfindet, ist noch soweit im Besitze seiner Vernunft, dass er sich selbst fragen kann, ob es nicht etwa Pflicht gegen sich selbst zuwider sei, sich das Leben zu nehmen. Nun versucht er: ob die Maxime seiner Handlung wohl ein allgemeines Naturgesetz werden könne. Seine Maxime aber ist: ich mache es mir aus Selbstliebe zum Prinzip, wenn das Leben bei seiner längeren Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen." Nach Kant handelt der "Selbstmörder" eindeutig gegen den kategorischen Imperativ; er vernichtet die Sittlichkeit durch Zerstörung der eigenen Person und entwürdigt dadurch die Menschheit.

  • Rousseau (1712-1778), Voltaire (1694-1778) und auch Schopenhauer (1788-1860) beschrieben mit unterschiedlichen Argumenten die Selbsttötung als Zeichen der menschlichen Freiheit und bejahten sie.

  • Nietzsche (1844-1900) schreibt in seinem Zarathustra: „Meinem Tod lobe ich Euch, den freien, der kommt, weil ich es will." Kierkegaard (1813-1855) sieht im Suizid das Vorrecht der menschlichen Existenz.

Hierbei handelt es sich nur um eine Kurzübersicht der geschichtlich und religiös-philosophischen Betrachtung des Suizids, wobei wir die verschiedenen Sichtweisen skizzenhaft darstellten, um die Entstehung und Gestaltung von juristischen Normen und den Bereich der Rechtsprechung anschliessend darzulegen zu können, die sich aus dem Vorhergesagten ableiten lassen.
So können die Vielfalt der Bewertungen suizidaler Verhaltensweisen in den einzelnen geschichtlichen Epochen und kulturellen Bereichen auch gut am Beispiel der Entwicklung entsprechender Rechtsformen und dem Umgang der Jurisprudenz (Rechtswissenschaft) und Jurisdiktion (Rechtsprechung) erläutert werden.

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Soziologische Aspekte des Suizids

2. Soziale Regungslosigkeit fördert Suizide

Bornschier (1988) stellt folgende Hypothesen auf:

  • Nehmen in einer Gesellschaft kollektive Proteste und die Gewalt zu, nehmen die Suizidraten ab

  • In jenen Ländern, wo die Umsetzung von Widersprüchen in kollektive Aktionen besonders gering ist, sei die Suizidrate besonders hoch.

In anderen Worten: Sind Individuen durch ihr soziales Umfeld gezwungen, Probleme individuell zu lösen, ist die Neigung zum Suizid höher. Bornschier sprich in diesem Zusammenhang von Phasen „sozialer Regungslosigkeit", in denen die Suizidraten jeweils ansteigen, weil die individuellen Konfliktlösungen an Bedeutung gewinnen.

aus: Bornschier (1988), Seite 181

Inhalt

2.1. Phänomen „Massensuizid"

Stepien (1984) weiss von Massensuiziden im zweiten Weltkrieg zu berichten, von Soldaten, die sich, verzweifelt, weil keinen Ausweg mehr sehend, das Leben nahmen. Oder von Daheimgebliebenen, die sich, aus Angst vor Folter, Vergewaltigung und Verschleppung durch die „einrückenden Bolschewiken" beinahe gegenseitig umbrachten.
Aus heutiger Perspektive rücken die MassenSuizide der letzten Jahre ins Interesse. Suizide aus pseudoreligiösen Motiven: 

Der Klassiker ist der Massensuizid von Guayana. (3) Beispiele neueren Datums sind die Sonnentempler-Sekte (4)oder die „Higher Source" oder „Heaven's Gate". Die 39 Mitglieder der Sekte lebten in einem Villenquartier bei San Diego in einem Haus, in dem es unzählige Computer hatte, das ansonsten mit Kajütenbetten in Schlafsälen aber spartanisch eingerichtet war.

 

Die Sektenmitglieder hatten in drei etwa gleich grossen Gruppen „eine nach ihrem okkulten Glauben bevorstehende Reise", inspiriert durch die Diskussion um den Kometen Hale-Bopp und generellem Glauben an ausserirdische Wesen (E.T.‘s) angetreten. Zuerst nahmen sich 15 das Leben, am nächsten Tag weitere 15 und am dritten Tag die verbliebenen neun.

Die Sektenmitglieder nahmen zu diesem Zweck starke Schlafmittel, vermischt mit Pudding und Apfelmus, und tranken danach Wodka. Dann legten sie sich auf ihre Betten; der Kopf wurde mit violetten Tüchern bedeckt. An den Fuss-Enden stellten sie Koffer bereit, in die Kleider gepackt waren. Alle Toten hatten neben dem Suizidrezept einen Fünfdollarschein in der Tasche und ein paar 25-Cents-Münzen. (5)

In der eigenen Internet-Site der Sekte sind folgende Sätze zu finden: „Our position agains suicide: We know that it is only while we are in these physical vehicles (bodies) that we can learn the lessons needed to complete our own individual transition, as well as to complete our task of offering the Kingdom of Heaven to this civilization one last time. We take good care of our vehicles so they can function well for us in this task, and we try to protect them from any harm."(6)
Um wieder auf wissenschaftlicheren Boden zurückzukehren, sollen folgende Punkte aus zu Rat gezogen werden: Fälle massenhafter Selbsttötung ereignen sich mehrheitlich vor, während oder nach Konflikten. Weiter herrscht unter den Mitglieder von massensuizidgefärdeten Gruppen meist ein Konsens, dass die Zukunft nicht mehr „lebenswert" sei (resp., dass die Zukunft nach dem Tod, oder um es mit den Worten von „Heaven’s Gate" auszudrücken, der Zeit nach der „individual transition", besser sei). Als Drittes ist den gefährdeten Gruppierungen gemeinsam, dass sie über keine nennenswerte Lobby verfügen.
Zusammenfassen kommt Stepien (1984) zum Schluss, dass auf der Identifikationsseite Konflikt, Hoffnungslosigkeit und fehlende Fürsprache zu jenen Faktoren zählbar sind, die in extremer Mischung menschliche Gruppen zur „suizidalen Masse" werden lassen – was nicht zwingend bedeutet, dass diese „Masse" dann auch suizidale Handlungen begeht.

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2.2. Frauensuizid als „kommunikative Handlungsform"

Betrachten wir den Suizid von Frauen separat, kommt vor allem der „kommunikative" Charakter des Suizids zum Vordergrund: Der Suizid, oder vor allem Suizidversuch, als Appell. Frauen wählen zu achtzig Prozent der suizidalen Handlungen den Suizidversuch.

Es gilt festzustellen, dass vor allem Frauen sogenannte „weiche Methoden" wählen, wenn sie eine suizidale Handlung begehen. Dabei ist es nicht immer das Ziel, sich effektiv zu töten. Hier kommt die Komponente „Kommunikation" ins Spiel. Rachor (1995) unterscheidet wie folgt:

  • „Appellerpressung": Suizidversuche mit appelativer, vor allem aber repressiver Struktur und Funktion, die als Versuche, das Leben des anderen, besseren Bedingungen zu leben, interpretiert werden.

  • „Reiner Appell": Suizidversuche, bei denen die Betreffenden eine starke Suizid-Tendenz und eine hohe letale Gefährdung aufweisen und häufig nur durch Zufall überleben.

  • „Parasuizid": Typus mit „spielerisch-riskohaftem" Charakter.

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Tabu: Jugend-und Alters-Suizid

2.3. Kinder -und Jugend-Suizid

Die Schweiz zählt zu den Ländern mit der höchsten Suizidrate bei Heranwachsenden: Ein trauriger Rekord! Im Jahre 1993 begingen in der Schweiz rund 130 Adoleszente (7) einen Suizid, was ungefähr der Zahl der Drogentoten im selben Jahr entspricht. Neben Unfällen ist der Suizid also eine der wichtigsten Todesarten bei Jugendlichen, da die jungen Leute nur selten an natürlichen Todesursachen sterben. Durch die Statistik erfasst sind nur die Todesfälle. Die Suizidversuche lassen sich mit der Statistik nicht zufriedenstellend aufführen, weil viele der betroffenen Familien Diskretion wahren.

2.3.1. Mädchen/Jungen

Im Geschlechtervergleich verhalten sich die jungen Suizidenten so, wie die Erwachsenen: Mädchen begehen eher Suizidversuche – Suizid als Hilfsappell. Jungen hingegen wollen sich weniger häufig das Leben nehmen, wählen in ihren Handlungen dann aber vermehrt solche, die mit grösserer Sicherheit zum Tod führen, also eine Waffe, den Strick oder den Sprung ins Leere. Junge Frauen greifen eher zu einer Überdosis Medikamente, was die Chance einer Rettung erhöht.

2.3.2. Exkurs: Die Suizidwelle im Rheintal

„Roger K. hatte eine Überdosis Tabletten genommen. Er starb still, leise, unbemerkt. Der Religionslehrer hatte schon länger Probleme mit Drogen, schluckte ausserdem Psychopharmaka." (8)
Nach dem sechsten Suizidopfer innerhalb eines Jahres im Bad Ragaz wurde auch der Sonntagsblick aufmerksam und widmete dem Kurort zwei volle Seiten. Was war passiert?

  • Take That?
    Im April 1995 erhängte sich ein fünfzehnjähriges Mädchen. Pfarrer Hans-Jürgen Martin, mit dem wir ein längeres Gespräch führen konnten, bringt den Tod der Schülerin in Zusammenhang mit der Auflösung der Mädchenband „Take That" (9) aufgelöst hatte.

  • Alkohol?
    Kurze Zeit später erschiesst sich ein Kantonsschüler; für Pfarrer Martin absolut unverständlich, da der junge Mann sehr intelligent war, in gesicherten finanziellen Familienverhältnissen aufwuchs und gut aussah. Der Suizident hinterliess einen Abschiedsbrief, in dem er „keine Vorwürfe an seine Eltern" anbrachte. Als eventuellen Grund ortet Hans-Jürgen Martin Alkoholprobleme, die allerdings nicht so gross gewesen sein können, dass man sie nicht in den Griff hätte bringen können.

  • Sexueller Missbrauch?
    Als dritte junge Person im selben Jahr begeht eine junge Frau Suizid. Sie war in jungem Alter mehrfach sexuell missbraucht worden und hatte dies trotz Therapie nie verkraftet.

  • Kaputte Familienverhältnisse?
    Eine geschiedene Familie – Vater Trinker, Mutter mit Tendenz zum Spiritismus – hat die Entscheidung zum Suizid beim vierten Suizidenten positiv beeinflusst. Er selbst war arbeitslos und seine Beziehung war kaputt: Frühmorgens um neun Uhr warf er sich vor einen Zug.

  • Beziehungsprobleme?
    Beziehungsprobleme nennt die Mutter eines weiteren Opfers als Gründe für die suizidale Handlung ihrer 21jährigen Tochter, die sich mit einem Gewehr ihres Freundes erschoss.

  • Suizid oder Herzversagen?
    Beim sechsten Opfer ist nicht gänzlich geklärt, ob es sich um einen echten, beabsichtigten Suizid handelt. Der junge Mann war schon längere Zeit Konsument von Psychopharmakas und starb am 31. Dezember 1995 an einer Überdosis. Unfall oder Suizid?

Sechs Suizidfälle mit ganz verschiedenen, aber typischen, Motiven. Wo liegt der Grund, dass innerhalb so kurzer Zeit sich so viele junge Menschen das Leben genommen haben? Nachahmungseffekt? Für Hans-Jürgen Martin ist dies nicht auszuschliessen. „Ich bin ja auch nicht allein in meiner suizidalen Handlung ..." – dieser Gedanke könne sicher die Schwellenangst tiefer setzen.

Als Pfarrer sieht Martin aber einen weiteren Punkt: Den Verlust echter religiöser Bindungen. „Keine der Suizidenten hatte das, was man einen ‚starken Glauben‘ nennen könnte", meint der Pfarrer nicht ganz ohne Frustration: „Wieso muss ich den immer auf den Friedhof, wieso kommen die nicht vorher zu mir?"

Halt und Bindung: Aus praktischer Tätigkeit in Brasilien weiss Martin, was das heisst: „Die Menschen sind dort teilweise unvorstellbar arm – aber die Suizidrate ist viel kleiner als bei uns." Die Leute müssen kämpfen, aber wenn sie kämpfen, sind „sie dem Leben nah!"

Eine brasilianische Lebensweisheit lautet: „Die Hoffnung ist die letzte, die stirbt ..." Solche Weisheiten sollten nach Hans-Jürgen Martin wieder vermehrt erzogen werden. Dabei sieht er gerade in der Erziehung gewisse suizidfördernde Potentiale. Das Motto „alles jetzt haben!" sei eher negativ zu bewerten. „Viele junge Menschen können nicht mehr ‚warten‘ und sind deshalb viel schneller frustriert." Wenn dann bei solchen frustrierten Personen noch extremen Erlebnisse dazukommen, kann der Suizidentscheid schnell gefällt sein.

Was ist in Sachen Prävention geschehen? Hans-Jürgen Martin hat für die Talgemeinschaft ein Sorgentelefon initiiert, das seit Mai 1997 in Betrieb ist, aber relativ wenig benutzt wird – bis jetzt. Ansonsten war vor allem beim Kanton St. Gallen kein Bedarf nach Handlung auszumachen. Das Total der Suizide pro Jahr ist seit Jahren konstant, was scheinbar beruhigend wirkt. Beunruhigend aber wäre ein detaillierterer Blick: Der Anteil der jungen Menschen am Suizid-Total hat zugenommen. Immerhin haben die Medien reagiert. Neben dem Sonntags-Blick-Artikel sah sich Hans-Jürgen Martin und seine Gemeinde einem grossen Medienrummel gegenüber. Fernsehanstalten aus ganz Deutschland haben um Interviews nachgefragt.

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2.4. Suizid im Alter

Mit dem Beginn der Industrialisierung hat die durchschnittliche Lebenserwartung ständig zugenommen - und mit ihr der Anteil der älteren Menschen in der Gesamtbevölkerung. Der Altersaufbau hat sich fundamental verändert: Aus der Alterspyramide ist eine "Alterszwiebel" geworden.
Die Sozialwissenschaften haben auf diese Entwicklung mit einem verstärkten Hang zur Gerontologie reagiert. Doch ein Thema wird bezüglich "Alter" immer noch wenig beachtet: Suizid im Alter. Das Thema Suizid ist in genereller Form spannend genug; Suizid im Alter präsentiert sich dazu komplex und brisant.
Dass Suizid im Alter als eigenständiges Thema ein solches Mauerblümchendasein fristet, erstaunt um so mehr, als die Suizidrate in den meisten "zivilisierten" Ländern nachweislich mit zunehmendem Alter ansteigt - und das war auch schon früher so.
Eine Erklärung für das eher geringe Interesse an der Thematik könnte die Tatsache sein, dass Suizid im fortgeschrittenen Alter allgemein "verständlicher" erscheint, vor allem, wenn die Suizidenten an einer (unheilbaren) Krankheit gelitten haben, was mit zunehmendem Alter immer wahrscheinlicher wird.
Nicht nur Krankheit kann eine ältere Person zum Suizidenten werden lassen, sondern auch der im Zusammenhang mit der Pensionierung oft feststellbare gesellschaftliche Rollenverlust.

2.4.1. Rollenverlust im Alter

Alter ist eine Lebensphase, die in der Gesellschaft teilweise immer noch mit einer stark negativen Einstellung behaftet ist. Assoziiert wird die Nähe zum Tod, der körperliche Zerfall und die durch Unproduktivität verursachte gesellschaftliche „Nutzlosigkeit" nach der Pensionierung. Alter scheint kein erstrebenswerter Zustand zu sein; zwangsläufig tritt er aber allemal ein. Wann ist dies der Fall?
In der Definition (10) darüber, wann jemand als „alt" bezeichnet wird, muss unterschieden werden zwischen biologischen, psychologischen und soziologischen Erklärungsversuchen.
Soziologisch betrachtet ist „Alter" primär eine Etikettierung, ein Stigma. Der Etikettierte selbst muss sich dabei nicht unbedingt „alt" fühlen, dies geschieht meist erst nach einer schwererer Krankheit. (11)
Das Problem, dass aus einer solch starren Altersdefinition resultiert, ist der Verlust der gesellschaftlichen Rollen nach der Pensionierung. Der Pensionierte wird in eine „Rolle der Rollenlosigkeit" gezwängt. Dabei wird von ihm erwartet, dass er sich nun, nach all den Jahren erschwerlichen Berufslebens, ausruht, sich aus sozialen Beziehungen und Verpflichtungen zurückzieht. Eventuelle Abhängigkeit und Unterstützung, die der „Ruhende" von anderen benötigt, wird als natürlich und unvermeidlich betrachtet. Christe (1989) spricht in diesem Zusammenhang von einem „Pensionierungsbankrott".
Eine Vorbereitung auf die Pensionierung scheint nicht erforderlich. Der Rentner aber kommt nicht darum herum, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie die Zeit nach der Aufgabe des Berufslebens sinnvoll und befriedigend gestaltet werden kann. Die Aktivitätstheorie (12) behauptet, je aktiver alte Menschen sind, desto glücklicher sind sie. Betrachtet man die älteren Menschen und glaubt man vor allem den Medienberichten und den Geschäftsleuten, die in den Alten einen neuen und „phantastisch wachsenden" Kundenkreis gefunden zu glauben haben, so scheint die Theorie aufzugehen: Seniorenaktivitäten sind „in" und nehmen scheinbar je länger desto mehr zu, getreu dem Motto „OPA=Optimales Power Alter" (13).
Gesellschaftlicher Rollenverlust im Alter – ein Faktor, der den Entschluss zum Suizid positiv beeinflussen kann: Alterssuizid als Extremvariante einer nicht gelungenen Anpassung an die Altersrolle in der modernen Gesellschaft.
Ein weiterer gesellschaftlicher Druck lastet auf den Rentnern: Bei kaum einer anderen Kohorte ist gesellschaftlich so genau ihr Verhalten vordefiniert.

2.4.2. Das gesellschaftliche Leitbild: Der „ideale" Rentner

Die Meinung, wie der „ideale" Rentner in der heutigen Zeit auszusehen hat, ist in der Gesellschaft ziemlich genau definiert. Er ist modern, reist gerne, nimmt Vergünstigungen, die ihm rechtlich zustehen, in Anspruch, ohne vor den Behörden Angst zu haben, wirkt und gibt sich „jünger", als er ist, schätzt das Schwelgen in Erinnerungen, nimmt aber auch am heutigen Geschehen Teil und ist „offen für Neues". Er liebt die Geselligkeit, kleidet sich flott, ist selbstbewusst und betätigt sich sinnvoll in der Freizeit. Er benutzt den Euphemismus (Beschönigung) „Senior" als selbstverständlich und gehört damit zu einer gesellschaftlichen Grossgruppe, deren Einfluss ständig wächst. Er legt eine - für sein Alter - immer wieder überraschende Aktivität an den Tag; kurz „er nimmt Teil", „macht mit". Er lässt sich nicht gehen und fällt anderen nicht zur Last. (14)
Nur wer diesem Leitbild nachlebt, ist folglich ein guter Rentner. Rücksicht auf das Individuum wird in solchen Definitionen und in einiger Literatur zum Thema nicht genommen. Wer dem Leitbild aus irgendwelchen Gründen nicht nachleben kann, gerät sicher eher in Versuchung, ausgelöst durch andere, im Alter häufiger auftretende Schicksalsschläge (Partnerverlust, Krankheit), einen Suizidversuch zu unternehmen.

2.4.3. Frauen/Männer

Wir haben gesehen, dass die Suizidrate (Anzahl der Suizide pro 100‘000 Einwohnern) mit fortschreitendem Alter ansteigt. Dieser Anstieg ist bei den Männern in hohem Masse signifikant: Je älter ein Mann wird, um so grösser ist die Gefahr, dass er durch einen Suizid stirbt. Das hängt wahrscheinlich mit der Krise während der Pensionierung zusammen, der Krise des Übergangs von der Arbeit in die Untätigkeit, der Ausschaltung aus dem Berufsleben, oder wie oben schon erwähnt, dem gesellschaftlichen Rollenverlust, von dem ehemals berufstätige Männer besonders stark betroffen sind.
Bei Frauen ist eine gewisse statistische Stabilisierung der Suizidrate nach den Wechseljahren zu beobachten, die bei den Männern fehlt.

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Suizid in Institutionen (Institutionseffekte): Der Strafvollzug

2.5. Allgemeine Erkenntnisse

Bei der Untersuchung von Suiziden drängt es sich auf, ein besonderes Augenmerk auf die Situation in den Institutionen des Rechtsvollzugs zu werfen. Die suizidologisch relevanten Problematiken lauten:

  • Überbelegung

  • Hoher Ausländeranteil

  • Suchtbedingte Beschaffungskriminalität

  • Innerinstitutionelle Gewalt

  • Schwere Verhaltensstörungen der Häftlinge

  • Willkürempfindungen durch fehlende klare Einsicht in die Hausordnung der Institution. Als Folge verlieren die Leute (noch mehr) ihr Selbstwertgefühl

  • Mangelhafte oder fehlende Zugangsgespräche und Aufnahmeuntersuchungen

  • Keine Tagesstrukturierung

Die Suizide im Strafvollzug werden vor allem im Haftraum selbst, in Absonderung (z.B. im Krankenhaus) und ausserhalb der Anstalt vollzogen.
Die Suizidhandlungen selbst geschehen vor allem nachts. Ein Fünftel hinterlässt einen Abschiedsbrief.
Jeder Fünfte hat seine suizidalen Absichten vorgängig mitgeteilt (15)– Suizid im Strafvollzug als Hilfsappell.
Besonders gefährdet sind Häftlinge während der ersten drei Monate nach Neuzugang – die Suizidrate nimmt mit der
Dauer der Inhaftierung ab – Häftlinge in Untersuchungshaft, Erstinhaftierte und Einzelinhaftierte.

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2.6. Prävention

2.6.1. Institution

Auf der Ebene der Institution lassen sich

  • Suizidpräventive Aspekte finden bei Leuten aus desolaten Verhältnissen: Erstmals in der Haftanstalt finden diese traumatisierten Personen eine gewisse Förderung und Struktur vor, zum ersten Mal in ihrem Leben können sie "mit Stolz ihre Hütte vorzeigen" und einen eigenen Raum benutzen, stützen und ausbauen.

  • Suizidfördernde Aspekte finden bezüglich Grösse der Anstalt, Inhaftierungssituation, speziellen Problemen (z.B. Transportabteilung: Hin-und herschieben. Krankenabteilung, Umstrukturierung: Organisatorische, personelle oder räumliche Umstrukturierungen, da dies zu erheblichen Orientierungsschwierigkeiten bei Mitarbeitern und Inhaftierten führt) und technische und bauliche Sicherung.

Suizidrelevante Personalaspekte sind:

  • Die personelle Ausstattung: Der Strafvollzug verfügt über sehr enge finanzielle und damit auch personelle Ressourcen. Besonders der Resozialisierungsauftrag kann nur reduziert erfüllt werden.

  • Die räumlich-sachliche Ausstattung: Spartanisch ausgestattete Arbeitsräume, die mit Mitarbeitern geteilt werden müssen, bieten keinen Rahmen für ungestörte Gespräche mit den Gefangenen.

  • Burn-Out-Syndrom (16). Bezeichnet den Zynismus einiger Bediensteten "man könne niemanden an der Selbsttötung hindern, mit so einem Schwund müsse man leben und arbeiten, eine Haftanstalt sei kein Sanatorium" (17). Durch dauernde psychische Belastung laufen einige Angestellten Gefahr, selber "zu Opfern der Institution" und suizidgefährdet zu werden. Sie stellen somit für die notleidenden Inhaftierten eher eine Gefahr als Hilfe dar.

  • Supervision. Bedeutet, das je emotionaler, belastender Arbeitsbedingungen sind, es desto notwendiger wird, dass ein nicht in die Institution eingebundener, neutraler, "unbelasteter" Supervisor, problematische Mechanismen (18) und Ressourcen aufdeckt und Lösungsstrategien anbietet.

  • Aus-und Weiterbildung. Angesichts der besonderen Häufung suizidrelevanter Probleme in der Institution ist eine suizidologische Aus-und Weiterbildung besonders nötig. Da von Häftlingen häufig suizidale Impulse ausgehen ist es wichtig, dass ein Bediensteter über seine eigene emotionale Situation sowie über suizidale Probleme reflektiert hat. Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter verfügen häufig über keine ausreichende Kompetenz.

  • Personalführung

2.6.2. Ebene der inhaftierten Person

Durch folgende Punkte kann eine präventive Wirkung gegen Suizide im Strafvollzug erzielt werden:

  • Für Drogenabhängige geeignete Behandlungsangebote schaffen, um sie aus gewaltbestimmten Strukturen herauszuführen

  • Die ersten Monate der Haftzeit "entschärfen" (Schock der Verhaftung)

  • Förderung der Persönlichkeitsentwicklung von Inhaftierten, Resozialisierung, Therapie

  • Lebenszweifel und Schuldgefühle abbauen

  • Offenen und halboffenen Strafvollzug oder Arbeitserziehungsanstalten fördern

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2.7. Stichwort: Arbeitserziehung

Für junge Erwachsene, die "zur Zeit der Tat das 18., aber nicht das 25. Altersjahr zurückgelegt" haben, sind im Strafgesetzbuch (StGB) zwei Sanktionen vorgesehen: Entweder die normalen Strafen für erwachsene Täter oder die Massnahme der Arbeitserziehung.Artikel 100bis StGB nennt als Voraussetzungen für die Arbeitserziehung: "Ist der Täter in seiner charakterlichen Entwicklung erheblich gestört oder gefährdet oder ist er verwahrlost, liederlich oder arbeitsscheu und steht seine Tat damit in Zusammenhang, so kann der Richter anstelle einer Strafe seine Einweisung in eine Arbeitserziehungsanstalt anordnen, wenn anzunehmen ist, durch diese Massnahme lasse sich die Gefahr künftiger Verbrechen oder Vergehen verhüten."Das Bundesgericht hat in einem Grundsatzurteil 1992 erklärt, der Richter müsse in jedem Fall Arbeitserziehung anordnen, wenn der junge Erwachsene der therapeutischen und erzieherischen Behandlung "zugänglich erscheint" und wenn dadurch die Chancen für sein künftiges Wohlverhalten sich verbessern. Arbeitserziehung ist gemäss diesem Urteil auch bei schweren Verbrechen wie Mord möglich. Doch gilt die Regel: Je schwerer eine Tat bestraft würde, desto höher sind die Anforderungen, die an eine günstige Prognose gestellt werden.
Arbeitserziehung dauert zwischen einem und drei Jahren; bei erneuter Delinquenz kann der Betroffene rückversetzt werden. Die Gesamtdauer darf aber vier Jahre nicht übersteigen. Spätestens mit dem 30. Lebensjahr des Eingewiesenen endet die Arbeitserziehung.

In der deutschen Schweiz gibt es drei Arbeitserziehungsanstalten: Arxhof (46 Plätze) in Niederdorf BL, Kalchrain (64 Plätze) in Hüttwilen TG und Uitikon Waldegg (53 Plätze).
Arbeitserziehung statt Haft: Vor allem bei jungen Delinquenten sind die Erfahrungen positiv. Der "Schock der Verhaftung" ist kleiner. Dank teils halboffenen Haftbedingungen wird auch die Absonderung von der Gesellschaft gemindert, was eine permanente Wiedereinsozialisierung erlaubt.
Auch im Bereich der Suizide schneiden die Arbeitserziehungsanstalten gut ab: Ein befragter Angestellte in Uitikon Waldegg wusste von keinem Suizidfall zu berichten. Ab und zu gibt es hingegen "Selbstverstümmelungsversuche": Verschlucken von brennenden Zigaretten, rammen von Glastüren und ähnliches.

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Primäre, sekundäre und tertiäre Prävention

3. Primäre Prävention: Verhinderung bzw. die Reduzierung von Suiziden

Primäre Prävention bedeutet, Massnahmen zur Förderung der Gesundheit durch Beseitigung von ursächlichen Faktoren, zum Beispiel Veränderung der Umweltfaktoren, die das Wohlbefinden einer Person negativ beeinflussen.
Konfliktsituationen und Kurzschlussreaktionen sind nun aber so häufig und meist so schwer vorauszusehen, dass eine primäre Prävention fast unmöglich erscheint.

Allfällige primäre Ansätze liegen im Bereich:

  • Problemlösungsstrategien aufzeigen

  • aktive Handlungs-und Bewältigungsstrategien in Alltagssituationen einüben

  • soziale Fähigkeiten ausbauen

  • Kommunikationsfähikeiten fördern

  • Kindern und Jugendlichen die Freiheit zur Entfaltung geben und so Erfahrungen mit Konfliktsituationen zu ermöglichen: „Hilfe zur Selbsthilfe!"

  • Verhinderung von Nachahmungseffekten (Werther-Effekt)

  • Ent-Tabuisierung

  • Beratungsstellen

Weil im Bereich Suizid eine primäre Prävention nur ungenügend realisierbar ist, wird der Fokus auf die Sekundärprävention um so wichtiger.

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4. Sekundäre Prävention (Früherkennung)

4.1. Früherkennung: Suizid-Signale (Präsuizidale Syndrome)

Auf Personen, die bereits einmal einen Suizidversuch begangen und diesen überlebt haben, muss ein besonderes Augenmerk geworfen werden. Weitere starke Hinweise auf einen möglichen Suizidversuch sind: (19)

  • Suizidiale Ideen und Phantasien

  • Häufiges Reden über Suizid

  • Vorbereitungen zu einem Suizid

Psychologische Probleme, wie Depressionen, Hoffnungslosigkeit, Schizophrenie, Drogenmissbrauch, wie zum Beispiel Alkoholismus, fliessende Persönlichkeitsgrenzen, fehlendes Vertrauen und persönliche Orientierungslosigkeit fördern die Tendenz zum Suizid.

Situative Risikofaktoren können eine Person, die bis anhin nicht unbedingt zu der Suizid-Hochrisikogruppe gehörte, aus der geordneten Lebensbahn werfen: Stressige Erlebnisse, wie zum Beispiel der Tod einer geliebten Person, Scheidung, das Auseinanderfallen der Familie, Vergewaltigungen (sexuelle Missbräuche von Kindern und Jugendlichen) und Arbeitslosigkeit. Vor allem letzter Punkt wird in Zukunft wohl an Bedeutung gewinnen. Es handelt sich um die selbe Problematik wie beim Männersuizid nach der Pensionierung: Rollenverlust und Gefühl des „Überflüssigseins".

Nachahmung: Die Nachahmungsthese behauptet, dass Personen, die sich im Umkreis von suizidgefährdeten Personen aufhalten, selbst ein höheres Risiko zum Suizid haben, zum Beispiel Peer-Groups mit Neigungen zu kollektiv-okkulten Handlungsmustern (Teufelsverehrungen, Sekten).

Genetische Veranlagung als Risikofaktor. Individuen, die einen Suizid oder einen Suizidversuch begangen haben zeigen oft eine signifikante Ähnlichkeit zur Familiengeschichte.

Risikofaktor Demographie. Wie schon gezeigt, begehen Männer bis zu fünf Mal mehr Suizide als Frauen. Bei beiden Geschlechtern nimmt das Risiko zum Suizid mit dem Alter zu.

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4.2. Die Aufgabe der Ärzte

Eine besonders wichtige Rolle bei der primären Prävention von Suiziden kommt den Ärzten zu. Dies deshalb, weil in vielen Studien nachgewiesen wurde, dass eine Mehrheit (67%) (20) der Suizidenten in sechs Monate vor dem Suizid bei einem Arzt gewesen waren. 37% konsultierten den Arzt eine Woche, 17% gar in den letzten zwei Tagen vor dem Suizid.
Der Arzt hätte wohl häufig die Möglichkeit gehabt, einzugreifen, reagierte aber nicht oder falsch auf meist unspezifische Symptome, wie Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Magenschmerzen, Appetitlosigkeit, Gewichtsabnahme, Kopf-und Gliederschmerzen etc..
Matthews (21) kommt zum selben Schluss: „50% der Suizid begehenden Adoleszenten konsultieren kurz vor ihrem Tod den Arzt."
Diese Fakten geben zu denken und machen die Integrierung des Themas „Suizid" im Ausbildungsplan der Ärzte absolut zwingend: Den Blick der Ärzte schärfen für individuelle-soziale Probleme und nicht nur für biologische Krankheitsbilder! Oder anders ausgedrückt: Ein Magenproblem muss nicht immer von einem Virusbefall verursacht worden sein!
Die Verzweiflung muss sich nicht immer so stark äussern, wie bei der Frau, die einen Hilferuf in einer Newsgroup ablegte – nebenbei erwähnt sicher nicht die dümmste Alternative zur Selbsthilfe: „Hallo, kennt einer von Euch die Amelungen-Klinik in Oberursel oder die Hohe Mark-Klinik in Oberursel? Wo finde ich Ansprechpartner und Adressen? Ich leide unter einer schweren endogenen Depression (mit sehr ernsten Suizid-Versuchen) und werde für einige Zeit in eine psychiatrische Klinik gehen müssen. Kennt Ihr sonst noch eine "menschenfreundliche" Einrichtung im Rhein/Main-Gebiet?" (22)

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4.3. Krisenintervention

Will ein Arzt oder eine andere Person, die mit einer suizidgefährdeten Person konfrontiert ist, reagieren, sind folgende Punkte zu beachten (Modell von Cullberg):

  • Die Selbstheilungstendenzen des Betroffenen unterstützen – nicht heilen.

  • Ermutigungen, Gefühle von Trauer, Schmerz, Schuld und Aggressivität zeigen.

  • Die Funktion als „stellvertretende Hoffnung" übernehmen.

  • Stützen in der Konfrontation mit der Realität, Verleugnungstendenzen und Realitätsverzerrungen entgegenwirken.

  • Die Hilfskräfte der Familie und eventuelle andere zu mobilisieren versuchen.

  • Die Regression im Dienste des Ichs unterstützen (Pharmaka, kurze Krankschreibung etc.)

  • Schädlichen Regressionen, wie Alkohol, Tabletten, Krankenhauseinweisung, soziale Isolation und Bitterkeit entgegenwirken.

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5. Tertiäre Prävention: Komplikationsprophylaxe nach versuchtem Suizid

Wenn Suizid als Krankheit und nicht als schicksalhaftes Ereignis betrachtet wird, ist die logische Schlussfolgerung, dass für die Überlebenden eines Suizids eine Betreuung angeboten werden muss – dies schon nur deshalb, weil es selten bei einem einzigen Suizidversuch bleibt.
Zu erwähnen sind begleitende Massnahmen nach der Entlassung aus der Notfallstation eines Spital, Auffangzentren, in denen die Suizidenten von einer medizinischen Equipe betreut werden.
Und nicht zuletzt: Wenn möglich eine Veränderung jener Umstände bewirken, die den Suizidenten zu seinem Versuch geführt haben.

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Fazit

Wir hoffen, mit unserer Arbeit vermittelt zu haben, wie komplex die Thematik der suizidalen Handlungen ist. Es gilt noch viel in praktischer, sowie theoretisch-wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Thema zu erklären.
Vor allem ist es wichtig zwischen suizidalen Handlungen von Männern und Frauen zu unterscheiden. Männer führen in erster Linie mit einer suizidalen Handlung und Methode ein letales Ende herbei. In erster Linie ist der Zusammenhang mit Konflikten in beruflichen, finanziellen und statusbezogenen Kontexten zu sehen, wobei harte Methoden gewählt gewerden.
Frauen wählen weichere Methoden und begehen zu ungefähr achtzig Prozent Suizidversuche. Dabei steht die Funktion als „Appell" im Vordergrund. In diesem Bereich besteht zwingender Forschungs-und Handlungsbedarf, denn es handelt sich um einen nicht zu unterschätzenden Personenkreis. Der geschlechterspezifische Kontext ist in diesem Zusammenhang relevant, was in weiteren wissenschaftlichen Untersuchungen belegt werden muss.
Der Begriff "Selbstmord" entstanden in einem anderen historischen und juristischen Kontext , was für die heutige Umschreibung einer suizidalen Handlung, da sie nicht mehr strafbar ist, semantisch keine Gültigkeit mehr hat und als Begriff überholt sein sollte. Es wäre anstrebenswert, das grossen Kreisen der Bevölkerung bewusst zu machen.
Kritisch zu betrachten ist, dass statistisches Material für Längsschnittstudien zu Vergleichszwecken nicht unbedingt den wahren Begebenheiten entsprechen muss, da in verschiedenen Zeitepochen Statistik qualitativ und in verschiedenen Ländern unterschiedlich differenziert und lang betrieben wurde.
Wichtig ist auch eine strukturelle, sowie qualitative Differenzierung zwischen Suizidversuch und Suizid mit letalem Ausgang vorzunehmen, wobei die geschlechterspezifischen Unterschiede intensiver herausgearbeitet werden sollten, unter der erschreckenden Feststellung, dass bei Mädchen und Frauen sowohl die Suizidversuchs- als auch die Suizidrate massiv zugenommen haben.
Ein weiterer Punkt ist, festzuhalten, dass in vielen Ländern zu bestimmten Zeiten suizidale Handlungen juristisch geahndet und diese von Ärzten und Angehörigen vertuscht und deshalb einem anderen Bereichen in der Statistik zugeschrieben wurden (andere Todesursache oder Unfall).
Für sehr wichtig halten wir es auch, festzuhalten, dass zweimal so viele Menschen jährlich in der Schweiz an Suizid sterben, als durch Autounfälle. Von daher ist zu untersuchen, inwieweit die Primärmedizin Aufklärungskampagnen lancieren, Anlaufstellen schaffen, Nottelefone einrichten kann etc., um langfristig einen ebenso langhaltigen Effekt aufzeigen zu können, wie es Aufklärungskampagnen, die Gurt-Tragepflicht etc. deutlich zeigen (doppeltes Verkehrsaufkommen, Halbierung der Strassenverkehrstoten). Ein Verlust an potentiellen Lebensjahren.
Unter dem kriminologischen Aspekt wollen wir festhalten, dass viel zu selten eine Rekonstruktion eines anscheinend offensichtlichen Suizids vorgenommen wird. Es kann sich auch um einen kaschierten Mord handeln. ( z.B. Lage der Schusswaffe zum Opfer und Einschusswinkel, Länge eines Seils zur Lage eines Stuhls zur Körpergrösse der Leiche etc.).
Viel zu selten wird eine Nachbetreuung der Angehörigen und Freunde des Opfers vorgenommen, da es wichtig für diesen Personenkreis selbst wäre, als auch für die Allgemeinheit, von Aussagen , Lebensumständen etc. Rückschlüsse und Motive für den begangenen Suizid finden zu können.
Suizidversuche haben in den westlichen Gesellschaften insofern an Normalität gewonnen, als dass der Suizident weiss, dass er sich auf eine institutionalisierte, sozial und medizinisch abgestützte Hilfe zurückgreifen kann, da sie vom Wohlfahrtsstaat verordnet und vom Rechtssystem gefordert wird.
Somit kann gesagt werden, dass es gesellschaftlich als Norm gilt, abweichen zu können, also z.B. einen Suizidversuch zu unternehmen, da dieses derivate Verhalten von der Gesellschaft immer eine Antwort erhält.
Aber wann findet die Gesellschaft die richtige Antwort auf Suizide und Suizidversuche?

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Inhalt


Fussnoten

  1. In Gutzwiler F., O. Jeanneret et al (1996), Seite 319 (zurück)

  2. Biener in "Lebenskunde und Gesundheitserziehung", Seite 27 (zurück)

  3. November 1978: In der Siedlung Jonestown im Dschungel Guyanas begehen 914 Anhänger der Volkstempler auf Anweisung ihres Messias Jim Jones den größten Massenselbstmord in der Geschichte. Einigen Opfern wurde unfreiwillig ein Todescocktail aus Zyanid und Limonade in die Venen gespritzt. (zurück)

  4. Sekte: Der Begriff leitet sich vom lat. secta (Schule, Lehre, Partei, von sequi: nachfolgen) ab und betont die Bedeutung der Lehre bzw. der Führer-/Gründer-Persönlichkeit. Die häufig verwendete Ableitung von secare (trennen, abschneiden) ist zwar nicht korrekt, hat aber die Verwendung des Wortes stark geprägt. (zurück)

  5. In den letzten Jahrzehnten ist durch das Auftreten der sogenannten Jugendreligionen der Begriff neuerdings stark belastet und zugleich durch das Entstehen neuer Esoterik- und Psychogruppen erheblich erweitert worden. Daher wird dafür plädiert, den Begriff "Sekte" etwa durch das emotional weniger aufgeladene "religiöse Sondergemeinschaft" zu ersetzen. Informationen aus Tages-Anzeiger Bericht, 29.03.97 und http://anw.com/halebopp/heaven.htm (zurück)

  6. (http://www.artbell.com/mirror/heavensgate/misc/letter.htm) (zurück)

  7. Zahl aus R. Matthews: "Der Selbstmord bei jungen Erwachsenen" (http://www.hin.ch/smv/suicidoal.htm) (zurück)

  8. Sonntagsblick 7.1.1996 (zurück)

  9. "Take That", eine sogenannte Boygroup, lösten mit der Bekanntgabe ihrer Auflösung einige Suizide bei den weiblichen Fans aus (zurück)

  10. Lebensalter: Grunddimension sozialer Strukturbildung und Ordnung. Einem bestimmten Alter sind durch Recht, Sitte, Brauch oder Konvention bestimmte Rechte und Pflichten (Rollen) und Handlungsweisen zugeordnet. Dabei werden mit dem jeweiligen Alter Erwartungen und Chancen für alterstypisches Handeln verbunden. (Kurzzusammenfassung aus "Grundbegriffe der Soziologie", UTB 1992/3) (zurück)

  11. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich ältere Menschen erst ab etwa 70 Jahre als "alt" einschätzen. (zurück)

  12. Die berufliche Ausgliederung erfolgt ohne Rückhalt in der Familie; der ältere Arbeitnehmer erfährt einen Bruch im Lebenszyklus durch Konfrontation mit völlig neuen und ungewohnten Alltagssituationen. Für deren Gestaltung fehlen von der Gesellschaft anerkannte und für den Pensionierten befriedigende Rollenmuster. Rollenverluste infolge der Auflösung der Familie und der Berufsaufgabe bedeuten Funktionsverlust. Das gesamte Verhaltenspotential wird eingeschränkt. Die von aussen erzwungene Aufgabe von Rollen, Positionen und Funktionen steht im Widerspruch zu den wirklichen Bedürfnissen älterer Menschen, die aktiv sein wollen. (Zusammenfassung aus Voges, 1985, S.21f) (zurück)

  13. Udo Lindenberg, Sänger, Jahrgang 46, in "Südwestfunkjournal", März 1994 (zurück)

  14. Teilweise eng am Text von Knopf, Detlef in "Alltag Seniorenfreizeitstätte – Soziologische Untersuchungen zur Lebenswelt älterer Menschen", Deutsches Zentrum für Altersfragen e.V., Berlin 1983, Seite 87 (zurück)

  15. Daten aus dem Bericht der Arbeitsgruppe Suizidprophylaxe im Strafvollzug (zurück)

  16. Der Begriff wurde 1990 von dem Psychoanalytiker Freudenberger in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt. Ihm war der zum Teil schwere psychische und physische Abbau von MitarbeiterInnen in Hilfsorganisationen aufgefallen (zurück)

  17. Bericht der Arbeitsgruppe Suicidprophylaxe im Strafvollzug, Seite 47 (zurück)

  18. Unklarheit bei der Aufgabenzuweisung, Spannung, Unzufriedenheit, konfuse Entscheidungswege und Verantwortungszuweisung, nicht nachvollziehbare Anordnungen der Institutionsleitung (zurück)

  19. aus Bradshaw, E. Danielle / Kaslow, J. Nadine: Suicide Facts: "Danger Signals" (http://www.terraworld.net/npd/dangersignals.htm) (zurück)

  20. Pöldinger, Walter / Stoll-Hürlimann, Marcelle: "Krisenintervention auf interdisziplinärer Basis", Verlag Hans Huber, 1980 (zurück)

  21. "Der Selbstmord bei jungen Erwachsenen" (http://www.hin.ch/smv/suicidoal.htm) (zurück)

  22. Newsgroup de.sci.psychologie, 20.6.1997 (zurück)

Last update: 25 Sept. 10

 

   

Editor:

  Prof. Hans Geser
Soziologisches Institut

der Universität Zürich

hg@socio.ch