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Sociology of School and Education

 

 

 

Wann lernt die Schule?

Hans Geser

Zürich 1991

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Der genaue Sinn der obigen Frage hängt davon ab, ob man den Begriff "Schule" eher in nominalistischer oder holistischer Weise versteht.

In der ersteren Sichtweise ist "Schule" nichts als ein Sammelbegriff für unzählige mit Prozessen formaler Ausbildung befasste Einzelpersonen (Lehrer, Schulpfleger, Schulpsychologen u.a.), und die Aussage, dass "die Schule lernt" wäre synonym mit der Feststellung, dass verschiedene Beteiligte ihre je eigenen individuellen Lernprozesse vollziehen. Für den Soziologen bliebe in diesem Falle bloss die Frage übrig, unter welchen Organisations-, Gruppen- und Interaktionsbedingungen derartige - letztlich immer psychologisch zu verstehende - intrapersonelle Lernvorgänge begünstigt oder behindert werden.

Aus der zweiten Perspektive erscheint die "Schule" genau umgekehrt als systemisch integrierte Institution, die in Analogie zu einer menschlichen Person die Fähigkeit hat, überindividuell konstituierte Wahrnehmungen und Handlungen zu vollziehen, in ihrem "Gedächtnis" Erfahrungen zu akkumulieren und/oder durch Rezeption von zusätzlichem exogenen Wissen für höhere Leistungen auf Gesamtsystemebene zu qualifizieren. Bei dieser Auffassungsweise sieht sich der Soziologe in viel fundamentalerer Weise angesprochen, weil es sich beim Subjekt, das lernt, um ein soziales Gebilde handelt, und bei den Lernprozessen keineswegs um innerpsychische Geschehnisse, sondern um objektiviertere Vorgänge, die in innerschulischen Kommunikationsprozessen, Gerätebeschaffungen, Planungskonzeptionen und Reformmassnahmen Ausdruck finden. Dann bietet es sich auch an, aus den zahlreichen Befunden der neueren empirischen Organisationsforschung Nutzen zu ziehen, in denen von den Bedingungen die Rede ist, die sich für organisatorische Adaptations-, Innovations- und organisatorische Reformprozesse als förderlich oder hinderlich erweisen.
Diese holistisch-systemtheoretische Sichtweise kann durchaus auch dann noch aufrechterhalten werden, wenn man realistischerweise anerkennt, dass die "Schule" nicht als eine integrierte Institution behandelt werden darf, sondern in eine Vielzahl miteinander koexistierender und interagierender Subsysteme (Schulgemeinden, Schulbehörden, Schulhäuser u.a.) zerfällt: sofern man nur zugesteht, dass es sich dabei um supraindividuelle Gebilde mit emergenten (d.h. nicht summativ aus ihren individuellen Mitgliedern folgenden) Systemeigenschaften handelt. Der Versuch, organisationssoziologische Einsichten generellerer Art für die Analyse von Schulen fruchtbar zu machen, erscheint auch dann noch als legitim, wenn man zum vornherein zugibt, dass viele Aspekte der Schule zu informell und zu mikrosoziologisch sind, um mit dem Instrumentarium der Organisationstheorie erfassbar zu sein, ja dass sich der Hauptanteil schulischer Aktivitäten gerade in einem strukturellen Medium (Klassenunterricht) vollzieht, das sich im wenig erforschten Niemandsland zwischen der Sphäre formaler Organisation und der Welt der Kleingruppen befindet.

In diesem Sinne sind die vier nachfolgend formulierten und erläuterten Thesen geeignet, um drei zueinander komplementäre Fragestellungen einer gewissen Klärung entgegenzuführen:

1) Warum sind Schulen im Vergleich zu den meisten andern Institutionen und Organisationen innerhalb der modernen Gesellschaft weniger gut in der Lage, überindividuelle Lernprozesse zu vollziehen?

2) Inwiefern und aus welchen Gründen unterscheiden sich verschiedene Schulen darin, wie viel und welche Art von Lernfähigkeit sie entwickeln?

3) In welche Richtung müssten sich aktuell bestehende Schulen verändern, wenn  das Ziel angestrebt würde, ihre Lernfähigkeit zu erhöhen?

 

These 1:

Hohe Formalisierung schafft günstigere Bedingungen für Lernprozesse: weil Entscheidungsinhalte und Entscheidungsprozesse in höherem Masse sichtbar, legitimationsbedürftig und intentional gestaltbar werden.

Denn im Gegensatz zu informellen Festlegungen (z.B. durch den einzelnen Lehrer oder Lehrergruppen) haben formelle Entscheidungen auf (Organisations- oder Behördeebene) den Vorzug, dass

  • ein Alternativenbewusstsein entsteht: weil sehr klar sichtbar wird, welche Variante ausgewählt und welche andren Varianten damit abgewiesen wurden;

  • ein Begründungsbedarf entsteht: weil man eine Instanz identifizieren kann, die für die Entscheidung verantwortlich ist und dafür zur Rechenschaft gezogen werden kann;

  • politisches Handlungsbewusstsein gefördert wird: weil klar wird, dass bestimmte Zustände nicht auf traditionelle oder personelle Gegebenheiten, sondern auf absichtliche Entscheidungen zurückzuführen sind, auf die man Einfluss nehmen kann, und dass solche Entscheidungen im Rahmen einer Machtverteilung und Kompetenzordnung getroffen werden, die ebenfalls anders sein könnte, als sie ist.

Nur wenn z.B. Prüfungsanforderungen formell expliziert sind, gibt es einen klaren Ansatzpunkt für die Diskussionsfrage, ob sie zu niedrig seien oder zu hoch. Nur wenn Wochenstunden pro Schulfach verbindlich festgelegt sind, kann eine breite öffentliche Diskussion darüber entbrennen, ob es legitim sei, Knaben und Mädchen unterschiedlich zu behandeln. Nur eine Schulbehörde, die Stoffpläne spezifisch vorschreibt, muss Auskunft darüber erteilen, warum andere denkbare Lehrinhalte ausgeschlossen werden. Nur wenn Lehrmittel verbindlich vorgeschrieben sind, lohnt sich eine breite Auseinandersetzung über die Frage, wer sich an ihrer Auswahl beteiligt und welche Selektionskriterien dabei angewendet werden.

Je zentralisierter, formalisierter und bürokratisierter ein Schulsystem, desto eher gibt es gut identifizierbare Ansatzpunkte für kritische öffentliche Diskussionen und gezielte bildungspolitische, administrative oder gerichtliche Interventionen, die zu einer differenzierteren Wahrnehmung und Evaluation der aktuellen Zustände, zum Ausdenken neuer Alternativen und zur Initiierung von Wandel beitragen können. Dieser Wandel kann sich durchaus auch in Richtung höherer Informalität und Dezentralisierung vollziehen. Denn paradoxerweise ist eine autoritative bürokratische Organisationsstruktur die unerlässliche Voraussetzung dafür, dass verbindlich darüber entschieden werden kann, bestimmte Aspekte informell zu belassen oder bestimmte Kompetenzen an untere Stellen zu delegieren.

Zum Beispiel können zeitlich befristete und räumlich begrenzte Experimentierfelder eingerichtet werden, um Erfahrungen mit weniger formalisierten Lehrmethoden , Kooperationsformen oder Prüfungsverfahren zu sammeln und nachher darüber zu entscheiden, ob sie im Gesamtsystem verankert werden sollen. Durch gezielte Kultivierung und Abschirmung derartiger "informeller Nischen" kann es selbst hoch bürokratisierten Schulinstitutionen gelingen, aus den motivationalen und innovativen Potentialen, die mit autonomen Rollen und Gruppenprozessen verbunden sind, Nutzen zu ziehen.

Generelle, umfassende Strategien der Informalisierung und Dezentralisierung erweisen sich allerdings als irreversible "Einwegprozesse": weil eben

  • ein Zustand der lntransparenz und Inhomogenität geschaffen wird: so dass nicht mehr klar erkennbar ist, welche Regeln und Praktiken nun eigentlich bestehen;

  • selbst bei ausgeprägtem Reformwillen kein klarer Weg zur Realisierung von Neuerungen mehr erkennbar ist: weil es keine eindeutig identifizierbaren Autoritätsinstanzen und Entscheidungsprozeduren mehr gibt, die dafür in Anspruch genommen werden könnten.

  • Deshalb pflegen sich Schulreformprozesse, die einseitig auf den Abbau von Formalität und zentraler Autorität gerichtet sind, letztlich selber zu paralysieren, weil sie dazu tendieren, kontrollierbare und spezifische hierarchische Autorität durch unkontrollierbarere und diffusere Einflussprozesse (von Einzelpersonen oder Gruppen) zu ersetzen, den Ist-Zustand intransparenter zu machen und für weitere Reformschritte keine präzisen Ansatzpunkte und Verfahrensweisen mehr zu bieten. Schulen können an der Aufrechterhaltung hoher Informalität durchaus interessiert sein: um sich vor kritischen Anfragen und Legitimationsanforderungen zu schützen und sich gegenüber gezielten Reformeingriffen zu immunisieren. Beispielsweise kann eine faktische Ungleichbehandlung von Knaben und Mädchen besser weiterbestehen, wenn sie sich "nur" in der informellen Sphäre des Schulunterrichts, nicht aber auf der Ebene explizit gestalteter Lehrpläne, oder Prüfungsanforderungen konkretisiert.

    Je zahlreicher und verschiedenartiger die Ziele, die an die Schule herangetragen werden, desto grösser der Druck, Entscheidungen über Zielpräferenzen dem einzelnen Lehrer im Klassenunterricht zu überlassen. Denn formalisierte und zentralisierte Festlegungen würden nach aussen hin sichtbar machen, dass verbindliche Selektionen getroffen worden sind: und es würde offensichtlich werden, dass solche Setzungen keinen gesellschaftlichen Konsens finden und nicht legitimiert werden könnten. Genau dadurch aber werden öffentliche Diskussionen verhindert, die vielleicht zu mehr Klarheit und Konsens über die Schulziele führen könnten.

    Insofern die Schule zwecks Vermeidung von Legitimationskrisen, öffentlichen Kontroversen wie auch gerichtlichen Klagen auf derartige Strategien der "Selbsteinnebelung" angewiesen ist, wird sie auch den Bemühungen der Bildungsforscher, durch empirische Erhebungen den innerschulischen Ist-Zustand transparenter zu machen, nur mit Zurückhaltung gegenüberstehen.

     

    These 2:

    Je begrenzter und spezifischer ihre Lehrziele, desto besser kann eine Schule selbsttätig lernen, und desto eher kann sie sich von exogenen Orientierungen und Steuerungen unabhängig machen.

    Die Fähigkeit einer Organisation, durch "Versuch und Irrtum" aus ihren eigenen Tätigkeiten zu lernen und ihre Verfahrensweisen immer mehr zu perfektionieren, hängt davon ab, dass

    a) die Auswirkungen ihrer Aktivitäten präzis messbar sind;
    b) zwischen Handlungen und ihren Auswirkungen eindeutige, deterministische Kausalbeziehungen bestehen.

    Beide Bedingungen sind am besten erfüllt, wenn sich das Ziel schulischer Sozialisation in der Formung spezifischer äusserer Verhaltensweisen (z.B. im Beibringen von "Etikette" oder in der Korrektur von Schreib- oder Aussprachefehlern) erschöpft. Mehr Mühe haben Schulen, die bestimmte "Kenntnisse", "Fähigkeiten" oder "Qualifikationen" zustandebringen wollen, weil diese in äusseren Verhaltensweisen (z.B. Prüfungsleistungen) immer nur selektiv sichtbar werden. Und die grössten Schwierigkeiten für autonomes Lernen (sowohl auf Organisationsebene wie auf dem Niveau des einzelnen Lehrers) bestehen dann, wenn Ziele der "Erziehung", "Charakterbildung" oder gar der "Persönlichkeitsentfaltung" im Vordergrund stehen: weil sich solche Effekte der empirischen Beobachtbarkeit fast völlig entziehen und auch keine deterministischen Verfahren zur ihrer Herstellung existieren

    Durch zunehmende Gewichtung diffus-umfassender Sozialisationsziele (wie z.B. "Urteilsfähigkeit" oder "Genussfähigkeit") können sich Schulen selbst in eine Sackgasse wachsender Lernunfähigkeit manövrieren: weil selbst bei Messbarkeit und kausaler Determinierbarkeit solcher Effekte keine allgemeingültigen Verfahrensweisen festgelegt werden könnten, da jeder Schüler seinen eigenen Weg der persönlichen Entfaltung vollzieht.
    Ebenso können sich Schulen umso weniger ein Bild über ihre eigene Leistungsfähigkeit verschaffen, je mehr die von ihnen angezielten Ausbildungs- und Sozialisationseffekte sich erst in der Zukunft (z.B. in der späteren Berufskarriere der Absolventen) klar realisieren. So wird von der Schule beispielsweise immer mehr gefordert, dass sie ihre Schüler mit der Fähigkeit und Motivation ausrüstet, nach Schulabschluss selbsttätig weiterzulernen, um sich an die Wandlungen der Berufswelt anzupassen. Aber wie kann eine Schule sich darüber informieren, ob und wie gut sie dieses Ziel erreicht, wenn sie von ihren "Ehemaligen" keine Rückmeldungen erhält?

    Aber selbst dann, wenn (z.B. dank Bemühungen der Bildungsforschung) messbare Ergebnisse schulischen Handelns vorliegen, kann die Schule oft nicht viel daraus lernen, weil über die Ursachen ihres Zustandekommens allzu unpräzise Vorstellungen bestehen. Der Hauptgrund dafür besteht darin, dass sich die Schule zur Erreichung ihrer Wirkungen fast ausschliesslich des Mediums "Schulunterricht" bedient, das die Eigenschaft hat, dass sich kausale Einflüsse verschiedenster Art (Vorbildhaftigkeit des Lehrers, Sanktionsdrohungen, kompetitive und kooperative Beziehungen unter den Schülern etc ) auf unentwirrbare Weise miteinander verbinden. So fällt es dem Lehrer - der ohnehin wenig Zeit für derartige Reflexionen hat - typischerweise sehr schwer, die Kausalwirkungen, die von seinem eigenen intentionalen Verhalten ausgehen, gegenüber den weniger kontrollierbaren übrigen Einflüssen (inkl. seiner eigenen "persönlichen Ausstrahlung") zu isolieren. Deshalb könnten die Lehrer selbst dann, wenn man sie extensiv befragen und - was bisher kaum geschieht - in umfangreiche Prozesse des Erfahrungsaustausches und der "Aufwärtskommunikation" integrieren würde, zur Verbesserung der Schule nur einen begrenzten Beitrag leisten.

    All diese Mängel an kausaler Zurechenbarkeit können zwar einerseits bewirken, dass die Generierung von Schulreformen immens erleichtert wird: weil man damit rechnen darf, dass selbst gravierende Irrtümer und Fehlentwicklungen nicht allzu offensichtlich erkennbar werden. Andererseits wird aus genau demselben Grund die Evaluierung von Reformmassnahmen überaus erschwert, weil selbst fundierteste und genialste Massnahmen nicht in spektakulären Erfolgen terminieren, von denen konsensual angenommen wird, dass sie einzig im intendierten Reformhandeln ihre hinreichende Ursache haben.

    Dies wiederum hat zur Folge, dass

    • die Motivation zu schulischen Innovationen sich andauernd aus verinnerlichten Überzeugungen oder ideologischen Glaubensweisen nähren muss, weil man sich nicht durch überzeugende Erfolge begeistern lassen kann;

    • Prozesse der Schulreform deshalb kaum jemals "selbstinduktiv" werden, sondern andauernd an Modeströmungen und Meinungskonstellationen der gesellschaftlichen Umwelt (Politik, Öffentlichkeit, Wissenschaft u.a.) gebunden bleiben.

    Insofern Schulen nicht in der Lage sind, um im Blick nach innen aus ihren eigenen Aktivitäten zu lernen und die an der operativen Basis (d.h. im Schulzimmer) akkumulierten Erfahrungen mittels Aufwärtskommunikation für die Schulorganisation nutzbar zu machen, sind sie umso stärker dafür disponiert, um im Blick nach aussen ihre Orientierungen aus der gesellschaftlichen Umwelt zu beziehen und mittels Abwärtskommunikation im Schulunterricht zur Geltung zu bringen. Deshalb sind gerade Schulen mit umfassenden, auf die Gesamtpersönlichkeit zielenden Erziehungs- und Bildungszielen gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt besonders wenig autonom, sondern gegenüber exogenen Einflüssen in besonderer Weise rezeptiv. So bleibt die gesellschaftliche Autonomie der Institution "Schule" keineswegs bloss wegen der Kontrollansprüche aus Politik, Öffentlichkeit oder Wirtschaft sehr eng begrenzt, sondern auch auf Grund der Tatsache, dass sie aus Mangel an endogener Selbstorientierung auf verschiedene ausserschulische Orientierungsangebote angewiesen bleibt.

    Im Vordergrund stehen dabei

    1) Gesetzliche und administrative Vorschriften. Auf sie wird permanent rekurriert, um schulische Handlungen und Unterlassungen (z.B.: Benotungen, Zeiteinteilungen des Unterrichts, Einordnung der Schüler in Klassen u.a.) zu legitimieren, die zu wenig auf der Basis sachlich-pädagogischer Erfahrung gerechtfertigt werden können.

    2) Kulturelle Traditionen. Weil pädagogisches Handeln zu wenig auf induktivem Wege strukturiert werden kann, muss es umso stärker deduktiv begründet werden, indem es von generelleren Positionen philosophischer, ideologischer oder wissenschaftlicher Natur hergeleitet wird. Entsprechend unterliegen die pädagogischen Leitvorstellungen einem Wandel, in dem sich viel stärker der Wechsel gesellschaftlicher Wertvorstellungen oder humanwissenschaftlicher Paradigmata anstatt ein Fortschritt auf der Ebene praktisch-pädagogischer Verfahrensweisen widerspiegelt.

    Schulen, die gegenüber den dominierenden kulturellen Strömungen ihrer gesellschaftlichen Umwelt Distanz wahren wollen, bleiben dafür auf eine umso engere Bindung an einen alternativen kulturellen Kanon angewiesen (z.B. die Rudolf Steiner Schulen auf die Anthroposophie)

    Schulen können daran interessiert sein, dass die Effekte schulischer Tätigkeit für unmessbar und die Kausalitätswirkungen pädagogischen Handelns für indeterminiert gehalten werden. Denn solange in der Gesellschaft derartige Vorstellungen bestehen, kann sie sich der Zumutung, lernen und sich reformieren zu müssen, meist erfolgreich entziehen. Deshalb können Schulen dann bestrebt sein, möglichst generelle Sozialisationsziele anstatt spezifische Ausbildungsziele ins Zentrum zu stellen, um nicht Gefahr zu laufen, auf der Basis präziser Messkriterien als ineffektiv beurteilt zu werden.  Der Verlust dieses Glaubens würde auch zu praktisch unlösbaren Legitimationsschwierigkeiten führen, weil dann klar sichtbar würde, welch unterschiedliche Sozialisations- und Ausbildungschancen die Schulen (je nach Lehrer, Klassenzusammensetzung u.a.) ihren Schülern vermitteln. Es würde dann offensichtlich, dass derartige Ungleichheiten auf Grund der dezentralistischen schulischen Organisationsstruktur einerseits völlig unvermeidlich, auf Grund des verfassungsmässigen "Rechts auf gleiche Bildungschancen" aber nicht gut legitimierbar sind.

    Solange die Schule an inflationär überzogenen Zielen (der "sittlichen Erziehung", "persönlichen Entfaltung" u.a.) festhält, deren Erreichung in keiner Weise garantiert und gerichtlich eingeklagt werden kann, ist es ihr verwehrt, sich über ihre eigenen Leistungen und deren Grenzen klare Einsicht zu verschaffen und mit ihrer gesellschaftlichen Umwelt in lebendige Auseinandersetzung zu treten. Nur durch Einschränkung auf zum vornherein begrenzte, aber objektiv fassbare Leistungen ("back to basics") könnte sie dazu gelangen, so wie alle anderen gesellschaftlichen Institutionen in Übereinstimmung mit ihren eigenen Möglichkeiten zu leben und Leistungen zu erbringen, die seitens der Schüler (bzw. ihrer Eltern) sicher erwartet und im Einzelfall auch juristisch eingefordert werden können. Nur unter solchen Bedingungen vermögen die an der Schule interessierten Kreise in Politik, Wirtschaft, Kultur und Öffentlichkeit auch zu lernen, welche Leistungen die Schule erbringen kann und welche nicht, und was für kausale Zusammenhänge zwischen "Inputs" (Geld, Lehrerbildung u.a.) und "Outputs" tatsächlich bestehen. Nur dadurch werden sie fähig, ihre bisher diffusen (und häufig inflationär überzogenen) Erwartungen an die Schule zu präzisieren und ihr die Rolle genauer vorzuschreiben, die ihr im Verhältnis zu allen andern Sozialisations- und Bildungsagenturen (Eltern, Massenmedien, peer groups u.a.) zukommt.


    These 3:

    Je vielfältiger, widersprüchlicher und variabler die Ziele und Anpassungsleistungen, die die Schule erfüllen soll, desto weniger kann sie "lernen", und desto mehr ist sie geneigt,
    - umweltgerichtete durch innengerichtete
    - zukunftsbezogene durch gegenwarts- oder vergangenheitsbezogene
    Orientierungskriterien zu ersetzen.

    Keine andere Institution der modernen Gesellschaft steht so sehr unter dem Druck, gleichzeitig äusserst heterogene, einander sogar diametral widersprechende Leistungen erbringen und Erwartungen erfüllen zu müssen.

    Ein Hauptwiderspruch ergibt sich beispielsweise daraus, dass der Schule zugemutet wird, sich in mindestens fünf Aspekten einerseits adaptiv-lernend an die Gesellschaft anzunähern und sich anderseits protektiv-kompensierend von ihr zu distanzieren:

    1) In sozialer Hinsicht:
    Die Schule sollte die Individuen dazu befähigen, sich später in grösseren, unpersönlichen Sozialverhältnissen des Erwachsenendaseins (d.h. in Grossorganisationen, auf Märkten, gegenüber Behörden u.a.) gut zurechtzufinden, erhält aber auch den Auftrag, sie in den informellen Mikrokosmos der Klassengruppe einzusozialsieren und ihnen entsprechende Erfahrungen (der Kollegialität, Solidarität, Teamarbeit u.a.) zu vermitteln, die sie in der späteren Berufswelt gerade nicht angeboten erhalten.

    2) In sachlicher Hinsicht:
    Sie sollte einerseits durch Anreicherung ihrer Stoffpläne und Diversifizierung ihres Fächerkanons mit der wachsenden Fülle und Vielfalt gesellschaftlichen Wissens Schritt halten, andererseits aber dieser wachsenden Spezialisierung und Fragmentierung der Wissenskultur die Einheit der Persönlichkeitsbildung gegenüberstellen und übergreifende Sinnorientierungen vermitteln.

    3) In zeitlicher Hinsicht:
    Sie sollte sich dem raschen Wandel aktueller kultureller Trends, öffentlicher Diskussionsthemen und massenmedial verbreiteter Informationen nicht verschliessen, andererseits aber ein Hort sein, wo die beständigeren , z.B. "klassischen" Kulturschöpfungen und Wertorientierungen ihre Pflege erfahren und dem Schicksal völligen Vergessens, das ihnen überall ausserhalb der Schule droht, entzogen werden.

    4) In funktionaler Hinsicht:
    Sie muss vor allem jene Wissensgehalte übermitteln und jene Qualifikationen und Charaktermerkmale erzeugen, die sich für die spätere Lebensführung im allgemeinen und für die Berufswelt im besonderen als besonders instrumental erweisen. Sie muss derartige Ausbildungsziele aber ständig mit davon losgelösten reinen Bildungszielen in Einklang bringen, bei denen Massstäbe zweckfreier Wahrheit, Schönheit oder Moralität sowie humanistische Konzeptionen der Persönlichkeitsentwicklung im Vordergrund stehen.

    5) In senso-motorischer Hinsicht:
    Sie sollte die Individuen einerseits zum rationalen Gebrauch jener Technologien (z.B. Massenmedien, Computer) befähigen, die im wesentlichen eine "sekundäre", vom unmittelbaren sinnlichen Erleben losgekoppelte Erfahrungswelt vermitteln. Genau wegen der Allgegenwart dieser technologisch vermittelten Medienwelt erwartet man von der Schule andererseits umso dringender, dass sie den Schülern "Erfahrungen und Erlebnisse aus erster Hand" (z.B. durch Basteln, Ferienlager, Exkursionen Naturexperimente u.a.) zugänglich macht, bevor sie in die "entsinnlichte" Welt der Erwachsenen überwechseln.

    Zudem kann auch aus der Forderung, dass "die Schule sich an die Gesellschaft anpassen müsse", keineswegs eine einheitliche Zielsetzung und Entwicklungsrichtung hergeleitet werden: weil aus Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit höchst unterschiedliche Erwartungen gestellt werden und weil es angesichts der zunehmenden Komplexität und Dynamik der Gesellschaft immer weniger klar ist, auf welche künftige Lebensformen und Berufslaufbahnen die Schüler vorbereitet werden sollen und welche Bereiche aus der grenzenlosen Welt des Wissens und der Kultur es verdienen, neu im Lehrplan mitberücksichtigt zu werden. Mit wachsender Vielfalt und Widersprüchlichkeit solcher Zielerwartungen wird die Schule immer unfähiger, konsistente Lernprozesse und Reformen zu vollziehen, weil jeder Schritt in die eine Richtung impliziert, dass man sich von andern, genauso legitimen Zielsetzungen umso mehr entfernt.

    Je heterogener die Ziele, desto mehr erhalten Lehrer und Schulen Gelegenheit, praktisch beliebige Verhaltensweisen, Lehrmethoden und Organisationsformen im Namen des einen oder andern Ziels hinlänglich zu legitimeren. Dadurch werden die Verhältnisse in den Schulzimmern und Schulorganisationen immer vielfältiger; aber es fehlen

    a) die Bewertungskriterien, um über "gute" und "schlechte" Lösungen zu entscheiden;
    b) die Legitimationskriterien, um bestimmte Varianten gegenüber anderen verbindlich durchzusetzen.

    Wenn man z.B. immer weniger weiss, auf welche berufliche und gesellschaftliche Zukunft man die Kinder vorzubereiten hat, wird es schwieriger, unter Berufung auf Kriterien der Instrumentalität von Schulen, Lehrern und Schülern Anpassungsleistungen zu verlangen. Damit wächst die Versuchung, die Erfolgskriterien der Schule und des Unterrichts an unmittelbar gegenwärtigen Wirkungen (z.B. "Ordnung im Schulzimmer", an der "guten Teamkooperation" oder am "subjektiven Wohlbefinden" aller Beteiligten) festzumachen.

    Wenn die Schule aus der Organisationssoziologie und Betriebswissenschaft nicht lernen kann, welche Organisationsformen ihren Zielen adäquat wären, kann, ja muss sie ihre Prozesse weiterhin dem undifferenzierten Sozialsystem "Schulunterricht" überlassen, in dem sich informelle, autoritäre und partizipative sowie individualbezogene und gruppenbezogene Verhaltensweisen unentwirrbar miteinander verbinden.

    Wenn kein Konsens darüber besteht, welche der zahllosen neuen Wissensgebiete, kulturellen Produktionsfelder und öffentlichen Diskussionsthemen man in den Unterricht beziehen soll, kann man ebenso gut am Kanon "bewährter klassischer Allgemeinbildung" rigide festhalten, weil dann wenigstens keine Umlernkosten anfallen und keine Risiken entstehen, vorübergehenden Modetrends zu erliegen. Aus diesem Grund können ausgerechnet jene Schulen die grösste Konservativität aufweisen, deren Schüler eigentlich der grössten Bandbreite verschiedener Lerninhalte zugänglich wären (z.B. Gymnasien).

    Je weniger der Lehrer weiss (bzw. wissen kann), auf welche Berufsrollen hin er seine Schüler ausbilden soll, desto eher wird er dazu neigen, sie auf das ihm selbst am besten vertraute Berufsbild (des Lehrers nämlich) zu sozialisieren und bei der Beurteilung ihres Schulerfolgs rein innerschulische Kriterien zu verwenden. So ist insbesondere die universitäre Ausbildung weitaus am besten auf inneruniversitäre Laufbahnen zugeschnitten. Dank dieser "selbstreferentiellen Reproduktionsweise" kann sich die Isolation des Schulsystems von seiner gesellschaftlichen Umwelt über Generationen hinweg kumulativ verstärken.

    Die Vielfalt der an eine Schule gerichteten Zielerwartungen nimmt in dem Masse zu, als sie Monopolcharakter hat und die Schüler zu ihrem Besuch gezwungen werden (z.B. Grundschule). Je grösser die Anzahl alternativer, konkurrierender Schulen (z.B. öffentlicher und privater Natur), desto mehr kann und muss sich jede Schule auf gewisse Ziele spezialisieren: mit der Folge, dass sie auch besser lernen kann, mit welchen Formen der Organisation, Lehrmethode u.a. man diese Ziele am besten erreicht.

    Ähnlich wie die Informalität der Strukturverhältnisse (vgl. These 1) und die Nichtmessbarkeit der Leistungen (vgl. These 2) kann auch die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Zielsetzungen zur Verdichtung jenes Nebelschleiers beitragen, durch den die Schule sich einer klaren Beurteilung, gezielten Steuerung und wirksamen Sanktionierung von aussen entzieht. Beispielsweise fehlt dann ein einheitlicher, konsensualer Massstab, nach dem einzelne Lehrer, Unterrichtsstile, Schulorganisationen oder auch ganze Bildungssysteme eindeutig als "besser" oder "schlechter" rangiert werden könnten, weil immer multiple und miteinander inkommensurable Vergleichsgesichtspunkte mitberücksichtigt werden müssen. Dadurch wird vermieden, dass Lehrer Schulen oder Schulsysteme in Konkurrenzverhältnisse zueinander treten, die für alle Beteiligten unerfreuliche Konflikte und Risiken mit sich bringen würden. Andererseits muss die Schule deshalb aber auch auf die motivierenden und innovationsfördernden Wirkungen verzichten, die mit ein Ehrgeiz, besser als andere zu sein, normalerweise verbunden sind.

     

    These 4:

    Die Lernmöglichkeiten der Schule wachsen in dem Masse an, als die Abläufe und Ergebnisse schulischer Prozesse (z.B. Lernleistungen) nicht mehr (ausschliesslich) den internalen Persönlichkeitsmerkmalen der Schüler zugerechnet werden.

    Forschungen im Bereich der sog. "Attributionstheorie" haben gezeigt, dass Individuen ihre eigenen Handlungen und Handlungsergebnisse eher von äusseren Situationsfaktoren als ihren inneren Merkmalen abhängig sehen, die Verhaltensweisen und Leistungen anderer Personen hingegen eher deren internen Eigenschaften (Charakterzüge, Fähigkeiten, Motivationen, Stimmungen u.a.) zuzurechnen pflegen. Dies impliziert, dass in jedes zwischenmenschliche Interaktionsverhältnis ein lernhemmender Faktor eingebaut ist: weil jeder Teilnehmer zu wenig sieht, in welchem Sinne er selber für seine Partner als situativer Faktor deren Verhaltensweisen mitdeterminiert.

    In Verhältnissen mit ungleicher Machtverteilung hat der Überlegenere immer die grösseren Chance, diese Sichtweise durchzusetzen und den untergeordneten Partner dazu zu bringen, sein eigenes Verhalten internal zu attribuieren. In extremster Form zeigt sich dies vor dem Strafgericht, wo Angeklagte vom Richter genötigt werden, ihre Verfehlung als ausschliesslich selbstverschuldetes Handeln zu interpretieren. Auch der Lehrer hat im allgemeinen gesteigerte Chancen, Schüler davon zu überzeugen, dass mangelhafte Schulleistungen eher auf ihre eigene Faulheit oder Dummheit zurückzuführen seien als auf die Spezifika der äusseren Lernsituation, für deren Gestaltung er selber die Mitverantwortung trägt.

    Wichtiger noch ist aber die Feststellung, dass Schulen ähnlich wie Gerichte von ihrer institutionellen Zielsetzung her darauf ausgerichtet sind, bei ihren "Klienten" internale anstatt situative (bzw. extrapunitive) Zurechnungen von Handlungen und Leistungen durchzusetzen, so dass derartige Praktiken der Lehrer nicht nur toleriert werden, sondern eine aktive organisatorische Verfestigung erfahren und mit institutioneller Legitimation ausgestattet werden. Benotungen und erst recht Promotionsverweigerungen lassen sich nur legitimieren, wenn die Schule ihre ganze Definitionsmacht aufbietet, um als Ursachen für den Misserfolg ausschliesslich die mangelnde Motivationen und Begabungen des Schülers haftbar zu machen. Genau dadurch aber treten schulseitige Mitursachen (z.B. Mängel der Didaktik, Lehrmittel, Lehrerqualifikationen u.a.) in systematischer Weise nicht in den Blick.

    Je stärker eine Schule mit Funktionen sozialer Selektion belastet ist, desto mehr wird sie sich selbst gegenüber Lernprozessen immunisieren:

    a) weil sie besonders dringend darauf angewiesen ist, den dropouts eine intropunitive Kausalinterpretation ihres Versagens zu suggerieren;
    b) weil gerade ungenügende Schulbedingungen und Lernmethoden als sehr adäquat empfunden werden können, da sie den "erwünschten" Effekt haben, eine hinreichend hohe Versagerquote zu erzeugen.

    Bei stark verbessertem Leistungsangebot bestände nämlich die Gefahr, dass plötzlich alle anfänglich eingetretenen Schüler die verlangten Minimalqualifikationen erreichen und dass Nichtpromotionen deshalb in keiner Weise mehr legitimierbar wären. Schulen wie auch Lehrer sind am wenigsten lernbereit, wenn Schülerleistungen invarianten intrapersonellen Merkmalen (z.B. Begabungen, Charaktereigenschaften etc.) zugerechnet werden, von denen man annimmt, dass sie sich jeder innerschulischen Veränderbarkeit entziehen. Hingegen exponiert sich die Schule in dem Masse ihren eigenen Unzulänglichkeiten, als sie die Ursachen an variable persönliche Eigenschaften (z.B. Motivationen, Aufmerksamkeit, soziale Partizipationsbereitschaft u.a.) zurechnet für die sie selber eine gewisse Mitverantwortung übernimmt.

    Dieser höheren Lernwilligkeit erziehender Schulen (im Vergleich zu rein ausbildenden Schulen) steht aber paradoxerweise eine geringere Lernfähigkeit gegenüber: weil sich solch "tiefliegende" intrapersonelle Eigenheiten einer gezielten Manipulierbarkeit und präzisen Messbarkeit weitgehend entziehen. Wegen ihrer "selbstverordneten" Unfähigkeit zur Selbstbeobachtung und Selbstreflexion sind Schulen stärker als viele andere Organisationen auf externe Beobachter (z.B. empirische Bildungsforscher) angewiesen, um sich über die Funktionen und Folgen ihres Tuns ins Bild zu setzen und daraus allenfalls Reformansatzpunkte zu gewinnen.