Was ist Kriminalität und welches Bild
machen wir uns von ihr? I. Versuchen wir es für den Anfang so: Kriminalität ist, wenn...: einer den anderen umbringt, jemanden vergewaltigt oder einen Beamten besticht. So weit, so klar? Leider nein: Um als Beispiel zu gelten, muss das Geschehen genauer individualisiert werden. Wir sollten etwa wissen, wer wen wie umbringt. Doch wenn wir uns auf ein konkretes Bild fokussieren, wird seine Wahrnehmung als Kriminalität oft unsicher. Ist etwa das Im- Stiche-Lassen eines in Lebensgefahr Befindlichen eine Tötung? Wer kann überhaupt getötet werden? Nur Menschen, auch im Sterben Befindliche oder Embryos? Gilt das rechtliche Tötungsverbot uneingeschränkt - also auch im Krieg? Ist für die Vergewaltigung überhaupt Gewalt vorausgesetzt, und gilt das Bestechungsverbot auch für ausländische Beamte? Sie sehen: Wie viele einfache Fragen ist die nach der Kriminalität auch mit Beispielen nicht leicht korrekt zu beantworten. Im Eigeninteresse des Juristenstandes könnte ich nun behaupten, dass es für eine korrekte Antwort eben Juristinnen und Juristen braucht. Die Vorfrage ist freilich, ob für das gesellschaftliche Kriminalitätsverständnis die juristische Beurteilung massgeblich ist. Genauer und spitzer gefragt: Müssen oder sollen wir bei der Bestimmung von Kriminalität der gesetzlichen Definition des Strafbaren und seiner mit Juristenlatein gespickten Umsetzung in eine staatliche Strafpraxis folgen, oder können/sollen wir unsere eigenen moralischen Masstäbe darüber, was strafbar sein sollte, anlegen?. Ist etwa Frauenhandel kriminell, weil und soweit das Verhalten förmlich mit Strafe belegt wird, oder weil und soweit wir das Verhalten für strafwürdig halten? Wenn wir dem erstgenannten Verständnis folgen, verwenden wir eine formelle Definition von Kriminalität. Danach umfasst die Kriminalität die Gesamtheit jener Handlungen, die in der Summe der Deliktstatbestände einer Strafrechtsordung als strafbar benannt sind und die von den Instanzen strafrechtlicher Sozialkontrolle als solche identifiziert werden. Doch ist es vernünftig und angemessen, das gesellschaftliche Kriminalitätsverständnis nach den formalen Vorgaben des Gesetzes und seiner juristischen Anwendungspraxis formen zu wollen? Dagegen spricht, dass Kriminalität etwas ist, wovon die Gesellschaft sich ein eigenes Bild macht, das nicht unbedingt mit dem Gesetz und seiner Anwendungspraxis übereinstimmen muss. Im gesellschaftlichen Verständnis hat Kriminalität mit Verletzung der körperlichen und psychischen Integrität von Opfern sowie mit Anteilnahme, Verängstigung und moralischer Entrüstung der Allgemeinheit zu tun. Nicht stets wird es glücken, diese Empfindungen in der nüchternen Sprache des Gesetzes einzufangen und in der Sanktionspraxis den gesellschaftlichen Empfindungen in angemessener Weise Genugtuung zu verschaffen. Obendrein ist das Kriminalitätsbild der Gesellschaft mit der förmlichen Strafzone nicht deckungsgleich. Das gesellschaftliche Kriminalitätsverständnis kann sich auf Verhalten beziehen, das heute noch nicht ausdrücklich verboten ist, aber es vielleicht morgen sein wird. Umgekehrt kann verbotenes Verhalten im Zuge einer Änderung moralischer Standards heute nicht länger verpönt und inzwischen faktisch toleriert sein. Der Wandel sozialer und moralischer Einstellungen läuft kaum je mit der Entwicklung des Gesetzes synchron. Das Problem mit dem förmlichen Begriff von Kriminalität lässt sich so formulieren: Wie kann dieser Begriff für die Gesellschaft verbindlich sein, die sich ein eigenes Bild von Kriminalität macht, das mit dem Bereich des formal Verbotenen und dementsprechend Geahndeten bestenfalls zum Teil übereinstimmt? Die Auseinandersetzung mit dieser Frage hat zu Versuchen geführt, einen vorjuristischen Kriminalitätsbegriff zu entwickeln, der sich gleichsam auf das materielle Substrat von Verbrechen bezieht. Ein solcher „natürlicher“ Verbrechensbegriff soll jedes Verhalten umfassen, das grundlegende moralische Empfindungen des Mitleids verletzt und darum so gut wie überall strafbar ist. Doch ist ein solcher durch die Moral – und nicht durch die staatliche Strafpraxis – bestimmter Verbrechensbegriff vorzugswürdig? Ich will darauf einen Poeten antworten lassen, der der Kumpanei mit Juristen unverdächtig ist. Friedrich Hölderlin – ja wirklich er, der Dichter! – hat den Zusammenhang zwischen dem gesellschaftlichen Kriminalitätsverständnis und der förmlichen Strafrechtsanwendung wie folgt begründet: "Strafe ist das Leiden rechtmässigen Widerstands und die Folge böser Handlungen. Böse Handlungen aber sind solche, worauf Strafe folgt. Die Handlungen selbst können unmöglich ein für sich bestehendes Kriterium ihrer Bösheit angeben" [1] . Dieses zwingende Argument mit seiner für Poeten untypischen Logik lässt sich mit weiteren Überlegungen stützen. So sind Massstäbe der Moral angesichts der Pluralität von Moralvorstellungen uneindeutiger und weniger allgemeinverbindlich als rechtliche Kriterien. Zudem reproduziert ein vorjuristischer Verbrechensbegriff das notwendig subjektive, letztlich inhaltlich beliebige Strafwürdigkeitsempfinden seines Autors. Angesichts dessen erweist sich die Anknüpfung an den durch die Strafpraxis geformten Verbrechensbegriff als hilfreich, ja sogar als notwendig. Dies hat der berühmte französische Soziologe Emile Durkheim bereits vor 100 Jahren in folgendem Zitat deutlich gemacht: "Jede wissenschaftliche Untersuchung bezieht sich auf eine bestimmte Gruppe von Erscheinungen... Wir stellen beispielsweise die Existenz einer bestimmten Anzahl von Handlungen fest, die ... einmal begangen, von seiten der Gesellschaft jene besondere Reaktion auslösen, die man Strafe nennt. Wir bilden daraus eine Gruppe ...: wir nennen Verbrechen jede mit Strafe bedrohte Handlung und machen das so definierte Verbrechen zum Gegenstande einer Spezialwissenschaft, der Kriminologie" [2]. Halten wir also fest: Die sehr simple Annahme, dass der Staat mit seinem Strafrecht die Inhalte von Kriminalität definiert, ist zutreffend und bildet die notwendige Basis sowohl des gesellschaftlichen Alltagsverständnisses der Kriminalität wie auch einer unbefangenen - wenn Sie unbedingt so wollen: „wissenschaftlichen“ oder „kriminologischen“ - Betrachtung des Phänomens. Gleichwohl bleibt auch jetzt noch manches zu klären. Etwa dies: Die staatliche Kriminalitätsdefinition umfasst eine Fülle von Verhaltensweisen, die unter verschiedenen Gesichtspunkten sehr heterogen sind. Was verbindet eigentlich - abgesehen vom Verbotensein - den Ladendiebstahl mit dem Eifersuchtsmord, weshalb soll die Vergewaltigung in der Ehe nach demselben Muster wie das Geldwaschen erklärt werden? Müssten nicht einzelne Kriminalitätsgruppen je besonders behandelt werden? Doch ist die Gruppierung von Straftaten nach kriminologisch sinnvollen Massstäben schwierig. Beispielsweise besteht noch immer keine Einigkeit darüber, welche Straftaten genau der sogenannten „Organisierten Kriminalität“ zuzurechnen sind. Angesichts von Interpretationsspielräumen des Gesetzes bleibt der genaue Verlauf der Strafzone verschieden deutbar. Was für den einen noch legale Geschäftstüchtigkeit ist, ist für den anderen bereits Betrug. Unklar ist zudem, ob Kriminalität ist, was das Gesetz als solches definiert oder was tatsächlich verfolgt oder geahndet wird. Ist die unentdeckt bleibende Straftat oder das Delikt, von dessen Bestrafung die Verfolgungsbehörde absieht, Kriminalität? Vermutlich haben Sie jetzt genug von dieser begrifflichen Differenzierung. Ich will darum einen vorläufigen Schlusstrich ziehen, indem ich als erste zentrale Einsicht zum Verständnis von Kriminalität festhalte: Der förmliche Verbrechensbegriff bestimmt das Wesen der Kriminalität als strafrechtlichen Rechtsbruch. Die Qualität als Rechtsbruch bildet die verbindende Gemeinsamkeit ansonsten heterogener Verhaltensweisen, die es rechtfertigt, allgemeine Aussagen über die Kriminalität zu machen. Das Verständnis von Kriminalität als Rechtsbruch verweist zudem darauf, dass Kriminalität nicht rein als Verhalten, sondern nur im Zusammenhang mit staatlicher Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung angemessen bestimmbar ist. Der juristische Verbrechensbegriff ist ungeachtet seiner fachspezifischen Herkunft und Formalität nicht bloss ein auf dem Papier in Paragraphen geformtes Konstrukt; ihm entspricht eine gesellschaftliche Praxis der offiziellen Rechtsdurchsetzung und der öffentlichen Wahrnehmung. Das vom positiven Recht vorgegebene Kriminalitätsverständnis bildet im gesellschaftlichen Bewusstsein ein zentrales und eigenständiges Thema. Darum – und nur darum – ist es gerechtfertigt, diesem besonderen „sozialen Sinnbereich“ eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin zuzuordnen, die sich um die erfahrungsgestützte Erklärung von Rechtsbrüchen bemüht. Diese Wissenschaft nennen wir Kriminologie. II. Ich will Ihre Geduld noch ein wenig weiter strapazieren, indem ich zum zweiten danach frage, welches Bild, oder welche Bilder, wir uns von dieser bislang nur – doch leider – sehr abstrakt-begrifflich bestimmten Kriminalität konkret machen. Kriminalität fügt sich in der alltäglichen Vorstellung des Publikums zu Bildern: von bösen Menschen mit Raubtierinstinkten, von kaltblütigen Killern, von brutal dreinschlagenden Glatzköpfen. Kriminalität hat in unserer Erinnerung Gesichter: Wir personalisieren sie und assoziieren eine kriminelle Gefährdung mit jenen Menschen, um die wir – einfach gesagt – im Bahnhof Bern einen weiten Bogen machen. Dies ist an sich nicht verwunderlich. Kriminalität ist ein Sinnbild für Bedrohung, das anders als sehr abstrakte Gefährdungen der Umwelt, der Währungsstabilität oder der aussenpolitischen Sicherheit handgreiflich ist. Kriminalitätserlebnisse sind eben für jeden individuell nachvollziehbar und werden mit Personen assoziiert, denen man auch ansonsten nichts Gutes zutraut. Die Öffentlichkeit schneidet ihr Bild von Kriminalität auf bestimmte Deliktsbereiche zu. Im Zentrum steht die repetierende schwere klassische Kriminalität, namentlich schwere Formen der gegen Personen gerichteten Gewalt, die von Unbekannten verübt wird. Im Wesentlichen geht es um Strassengewalt, daneben vor allem um Einbruchsdiebstahl. Bemerkenswert ist, dass die Öffentlichkeit damit nicht unbedingt die für die Gesellschaft insgesamt gefährlichsten Delikte in den Blick nimmt. Massenvernichtungen, schwere Umweltfrevel und insbesondere die schwere Wirtschaftskriminalität sind allenfalls am Rande des Kriminalitätsbildes angesiedelt. Wenn man die Menschen darauf anspricht, sagen sie: „Ja schon, das ist auch Kriminalität.“ Spontan in Befragungen benannt und im Alltag als Bedrohung empfunden werden hingegen in erster Linie Überfälle auf der Strasse und Wohnungseinbrüche. Warum ist dies so? Nun, zunächst zeichnen sich Strassengewalt und Einbruchsdiebstahl als Vorgänge aus, die von einzelnen leicht wahrgenommen werden können. Um einen raffiniert angelegten Betrug zu verstehen, braucht es Fachwissen. Was hingegen ein Überfall ist, verstehen alle ohne weiteres. Sodann bestehen bei leicht wahrnehmbaren Delikten bessere Ahndungschancen, so dass wir hoffen können, dass die Polizei und die Gerichte die Täter fassen und unschädlich machen werden; Förderung von Systemvertrauen durch ein bestimmtes Kriminalitätsverständnis ist dazu das Stichwort. Obendrein wird damit eine Kriminalitätsform in das Zentrum des öffentlichen Bewusstseins gestellt, die mit dem gängigen Vorurteil des „Schwerverbrechers“ verbunden ist, so dass daran Ängste ausgelebt werden können. Die Öffentlichkeit schneidet ihre Kriminalität so zu, dass sie sich bestens als Projektionsfläche für soziale Ängste eignet. Entscheidend untermauert wird dieses Kriminalitätsbild durch die Medien. Während Kriminalitätsereignisse und die sie auslösenden Geschehnisse von nahem betrachtet höchst komplexe Phänomene sind, die eine differenzierte Wahrnehmung erfordern, vermittelt die mediale Darstellung zumeist eine sehr begrenzte Information, verbunden mit einer klischeehaften Polarisierung in Gut und Böse. In dieser Feststellung steckt kein Vorwurf, sondern Einsicht in die Begrenztheit medialer Präsentationsmöglichkeiten. Wer je dazu eingeladen wurde, im Fernsehen ein 20-sekündiges Statement zu einem so komplexen Thema wie den Ursachen der statistisch zunehmenden Jugendgewalt abzugeben, weiss, wovon ich spreche. Zur Skizzierung in groben Strichen und zur eindeutigen moralischen Beurteilung durch die Medien eignet sich die Strassengewalt besonders. Ihr Täterbild entspricht einem resolut bösen Mann, dessen Lebensstil den üblichen sozialen Erwartungen widerspricht. Das Opferbild besteht typischerweise in einer respektierten Persönlichkeit, die unglücklicherweise zur falschen Zeit am falschen Ort war. Diese polarisierende Darstellung suggeriert Stärke bei den uns abstossenden Tätern und Schwäche bei den uns entsprechenden Opfern. Die Bürgerinnen und Bürger erscheinen in der medialen Darstellung als verletzlich und potentiell persönlich gefährdet. Wenn sie aus den Medien wieder einmal von einer neuen Untat eines dem Rollenbild entsprechenden Täters erfahren, werden sie in ihrem Vorverständnis und ihrer Angst bestätigt und bestärkt. Schliesslich wird dieses Kriminalitätsbild auch von einer sich volksnah gebenden Politik gestützt. Politiker verstehen sich bekanntlich darauf, komplizierte Probleme in einfache zu verwandeln. Die politische Debatte gerät heute leider nicht nur beim Kriminalitätsthema leicht zum Austausch von Slogans in einer „Arena“, deren Beobachtung eher Unterhaltungs- als Informationswert hat. Das Aufgreifen und Vorantreiben einer Welle der allgemeinen Empörung sichert einem politischen Gladiator Publizität und Wählerstimmen. In einer Arena kann schlechterdings kaum anders argumentiert werden. Lassen Sie mich klar betonen, dass die Wahrnehmung der Gewaltkriminalität in polarisierenden Stereotypen keine Erfindung der Medien oder der Politik ist, sondern einem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Identitätsfindung durch Ausgrenzung entspricht, das in unserer Kultur tief verwurzelt ist. Medien und Politik sind bloss Reflektoren und Verstärker dieses Bedürfnisses. Die Strassengewalt wird wegen ihrer Eignung zur gesellschaftlichen Identitätsfindung zu einem beherrschenden Thema der Innenpolitik. Die Dreistigkeit der Täter, sich mit Gewalt zu nehmen was anderen gehört, schart verständlicherweise all diejenigen in Empörung zusammen, die es durch harte Arbeit zu etwas gebracht haben. Die Politisierung der Strassengewalt eint die Menschen im Glauben, einen Kampf gegen das Böse führen zu müssen, in dem man nicht zimperlich sein darf. Sie ist ein Versuch der Wiedergewinnung eines ansonsten verlorenen gemeinsamen moralischen Standpunktes der Gesellschaft. Keine Frage: Strassengewalt gehört zum Schlimmsten, was wir als Individuen erleiden können. Sie betrifft über das individuelle Opfer hinaus jeden, insofern sie den persönlichen Freiraum einengt und die Lebensqualität mindert. Die Beschäftigung der Öffentlichkeit damit wie ihre Bekämpfung durch Polizei und Justiz ist legitim und notwendig. Davon unabhängig hat die wissenschaftliche Analyse nach den sozialen Funktionen dieses Phänomens zu fragen. Dabei ist festzuhalten, dass die Konzentrierung der Öffentlichkeit gerade auf diesen Kriminalitätssektor für die Gesellschaft von unschätzbarem Nutzen ist. Die Strassengewalt ist eine greifbare Ver-Gegenständlichung der ansonsten kaum auf einen Punkt zu bringenden Lebensrisiken und -ängste. Sie ist ein Objekt, das wie ein Leuchtturm zu Abstand anhält und damit die Orientierung weist. Gerade weil und soweit ein Konsens über die positiven Werte der Gesellschaft kaum mehr erzielbar ist, gewinnt das „negative Gut“ Kriminalität Bedeutung als ein Ziel, dessen Bekämpfung konsensstiftend und gemeinschaftsstärkend wirken soll. Die kriminalitätsbezogene Intervention hat Symbolkraft für den Versuch von Ordnungsstiftung in einer unüberschaubar und unbeherrschbar gewordenen Welt. Damit ist die auf Strassengewalt konzentrierte Kriminalitätswahrnehmung ein wichtiges Bindemittel der Gesellschaft. Wenn es stimmt, dass Kriminalität trotz aller Verfolgungsbemühungen im Prinzip unausrottbar ist, so liegt dies womöglich eben daran: Dass wir sie brauchen, um das nicht mehr positiv auf einen Begriff zu bringende Verständnis des Schönen und Guten wenigstens auf eine Kontrastfolie zu projizieren. Kein geringerer als Friedrich Schiller hat deshalb in seiner Erzählung „Der Verbrecher aus verlorenener Ehre“ die Wissenschaft vom Verbrechen als „Schule der Bildung“ und „umfassende Menschheitswissenschaft“ bezeichnet. Demgemäss beginnt die Erzählung in der ersten Fassung wie folgt:
Lassen Sie mich zum Schluss noch der Wissenschaft einen Spiegel vorhalten, deren Blick auf die Kriminalitätswahrnehmung der Öffentlichkeit Ihnen ungewöhnlich und vielleicht gar befremdlich erscheinen mag. Die Wissenschaft ist gewöhnt und nach klassischem Verständnis sogar darauf angewiesen, ihre Studienobjekte emotionslos zu betrachten. Wertfreiheit, Objektivität und bewusste Distanzierung von der emotionsbefrachteten Alltagswahrnehmung lauten hier die Stichworte. Wie der Arzt das Röntgenbild eines schönen Mädchens ohne Ansehung der ästhetischen Attraktivität der Person allein mit Blick auf eine mögliche Erkrankung wahrnimmt, nimmt der Kriminologe die Kriminalität ohne Berücksichtigung ihrer moralischen Verwerflichkeit allein in ihren sozialen und individuellen Zusammenhängen wahr. Sie mögen bezweifeln, ob die gebotene Objektivität stets gewahrt wird: vom Kriminologen und erst recht vom Arzt, dem dies verständlicherweise noch schwerer fallen dürfte. Doch lässt sich ernsthaft fragen: Wie sollen ausgerechnet Kriminalität und Bestrafungsvorgänge, die doch eminente Leiden schaffen und heftiges Mitleiden auslösen, streng leidenschaftslos studiert werden können? Wenn Sie diese Frage als berechtigt ansehen und doch eine möglichst unbefangene wissenschaftliche Analyse erwarten, haben Sie das Grunddilemma verstanden, in dem sich die Kriminalitätsforschung heute befindet. Die Forschung, die mit einer mitunter als Kälte erscheinenden Unbeteiligtheit nach der Nützlichkeit des Bösen fragt, kann sich damit nicht zugleich am Kampf gegen das Böse beteiligen. Dies ist schmerzlich für diejenigen, die sich dieser Aufgabe widmen. Doch ist hier eine Aufgabenteilung gefordert zwischen der theoretischen Kriminalitätsforschung und der praktischen Kriminalistik. Anmerkungen [1] Hölderlin F.: Über den Begriff der Strafe. In ders., Werke, Briefe, Dokumente, München 1963, 489. [2] Durkheim E.: Regeln der soziologischen Methode.König R. (Hg.) 5. Aufl. Darmstadt 1976, 130 - 132. Grundlegend auch Durkheim E.: Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt a. M. 1977, 111 ff.. [3] Schiller F.: Werke. Auswahl in zehn Teilen. Kutscher A. (Hg.), 6. Teil, Berlin o. J., 192. Last update: 18 Okt 11 |
|||||||||||
Editing committee:
|